Britischer Historikerstreit:Sechs Liverpools für Helmut  Kohl

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Am 19. Juni verstarb der englische Historiker Norman Stone. Seitdem streiten seine Kollegen in Nachrufen über den Kollegen, der Margaret Thatcher bewunderte und beriet.

Von Willi Winkler

Nur im Land von Boris Johnson kann ein Nachruf mit der Behauptung beginnen, der Verblichene sei besonders gut in "Rufmord" gewesen. Da der Guardian aber im Land von Boris Johnson erscheint, folgte ein seitengroßer Rufmord, der den Dahingeschiedenen, wie ein verständnisinniger Twitterer meinte, mit Sicherheit ins Grab gebracht hätte, wäre er nicht rechtzeitig gestorben.

Der Historiker Norman Stone hat das akademische, das journalistische und das politische Schlachtfeld am 19. Juni im Alter von 78 Jahren für immer verlassen, aber in den Nachrufen lebt er fort. Während ihm die Times und der Daily Telegraph überwiegend freundliche Grabbeigaben widmeten, nutzte Richard J. Evans die Gelegenheit zu einer bisher unerhörten Abrechnung mit seinem ehemaligen Kollegen. Stone sei zweifellos gescheit gewesen und als Lehrer oft inspirierend, "doch wurde er immer undisziplinierter, vernachlässigte seine Pflichten, verbrachte seine Zeit mehr und mehr damit, Poker zu spielen und sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken".

Stone sei alles andere als "Großbritanniens führender Historiker" gewesen, als der er sich gern anpreisen ließ. "Da seine Verleger wussten, dass er wenig von Recherche hielt, sich nicht die Mühe machte, die Fakten zu überprüfen, und sich auf sein literarisches Talent verließ, um seine Fehler zu tarnen, mussten seriöse Historiker seine Texte durchsehen."

"Alles, was gut ist an England, ist Lady Thatcher zu verdanken."

Norman Stone hat das Klischee vom ungebärdigen, aber unbedingt romanfähigen "Oxford don" mit Begeisterung übererfüllt. Andere bleiben vielleicht wegen ihrer jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Fragmenten Friedrich Schlegels oder der Geschichte der Präsidialkabinette in staubiger Erinnerung, Stone war einfach Stone: ein radikaler Formulierer und ebenso radikaler Trinker, ein klassischer Chauvinist und Verehrer autoritärer Staatsmänner und -frauen.

Stone war ein Sprachgenie, beherrschte Russisch, Italienisch und Ungarisch und konnte sich auch im türkischen Fernsehen in der Landessprache ausdrücken. Sein Buch über "The Eastern Front 1914-1917" (1975) über das Scheitern Russlands im Ersten Weltkrieg gilt noch heute als maßgebliches Werk. In die deutsche Geschichte ist Stone eingegangen, weil er Margaret Thatcher die entscheidenden Invektiven gegen Helmut Kohl soufflierte. Dennoch hat er sich eigene Verdienste um die Wiedervereinigung erworben, weil er der Premierministerin im letzten Moment versicherte, mit der DDR würde sich Westdeutschland nur "sechs Liverpools" einhandeln, ein einziges Armenhaus, und damit der Eisernen Lady die Angst vor einem übermächtigen Deutschland nahm.

In seinem unverhohlenen Nebenerwerbstrieb war Stone nur mit Hugh Trevor-Roper vergleichbar. Beständig klagte er über das bescheidene Salär, das ihm als Lehrstuhlinhaber zustand, nutzte die Gelegenheit jedoch, um darauf hinzuweisen, dass er das Doppelte seines Jahresgehalts durch Zeitungsartikel, Fernsehauftritte und schnell zusammengehauene Bücher verdiente. Anders als Trevor-Roper begnügte er sich nicht damit, seine Feinde gesprächsweise oder allenfalls in Privatbriefen zu denunzieren, sondern attackierte sie öffentlich. 1983 massakrierte er in einem langen Aufsatz seinen Förderer E. H. Carr, warf ihm nicht nur die Verharmlosung Stalins, sondern gleich auch noch sein Privatleben vor. Oxford und Cambridge ließen ihn gewähren, doch für ihn befanden sie sich im eisernen Griff des marxistischen Geschichtsdeterminismus. So rechts er selber war, konnte er doch von den konservativen Premiers nur mit äußerster Verachtung sprechen. Gelten ließ er nur "Mrs T", seine verehrte Lady Thatcher, die es ihm deshalb auch nicht verübelte, als er einmal im Vollrausch bewusstlos zusammenbrach. Immerhin lag er ihr zu Füßen, oder in seinen Worten: "Alles, was gut ist an England, ist Lady Thatcher zu verdanken."

Wie sie verteidigte Stone den chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Als Stones Verhalten die Geduld selbst der toleranten Kollegen in Oxford überstrapazierte, ließ er sich 1997 in die Türkei abwerben und unterrichtete an Privatuniversitäten in Ankara und Istanbul. Selbstverständlich leugnete er fortan den türkischen Völkermord an den Armeniern. Sein letztes Idol wurde, kein Zufall, Victor Orbán.

Während ihm Evans und andere sein laxes Lehrverhalten und die serielle Belästigung seiner Studentinnen vorhalten, werden seine männlichen Schüler wie Orlando Figes und Niall Ferguson keineswegs irre an ihrem Lehrer. In der Sunday Times hat Ferguson auf Evans mit einer Hymne auf den "Flann O'Brien der Geschichtswissenschaft" geantwortet. Akademisch begünstigte sexuelle Libertinage, altmodische Homophobie und Bewunderung undemokratischer Herrscher kommen bei Ferguson nicht vor, dafür Stones Fähigkeit, auch nach einer schweren Whiskeynacht mit Hilfe von Richard Wagner einen Kommentar zum bosnischen Krieg in die Maschine zu hämmern. Aber schließlich kann nur im Land von Norman Stone Boris Johnson Premierminister werden.

© SZ vom 29.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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