Brechtbühne:Sprachsymphonie mit langer Wirkung

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Dunkler Rausch der Assoziationen: Ellen Mayer (oben) und Katharina Rehn. (Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Nicole Schneiderbauer macht aus William T. Vollmanns "Europe Central" in Augsburg ein theatrales Erlebnis

Von Egbert Tholl

Das Staatstheater Augsburg hat eine neue Spielstätte, sie ist der Ersatz für die alte Brechtbühne und heißt nun "Brechtbühne im Gaswerk". Gern würde man beschreiben, wo sie sich befindet, aber das ist gar nicht so leicht. Vom Vorstadtbahnhof Augsburg-Oberhausen geht man dorthin eine Viertelstunde zu Fuß, durch ein dunkles Eigenheimkonglomerat mit beklemmender Ausstrahlung - hier hätte Ulrich Seidl alle seine Filme drehen können. Kein Schild weist den Weg, das gehört zum Service des Theaters, das sich von seinem Publikum offenbar einen handfesten Entdeckerwillen erhofft. Das erste Schild, das auf die Möglichkeit einer Spielstätte hinweist, sieht man, wenn man vor dieser steht. Was allerdings ein beeindruckendes Erlebnis ist. Gegenüber ist ein riesiges Parkhaus, das Gaswerk selbst ist eine fabelhaft schöne Industriekathedrale, noch nicht ganz fertig renoviert, aber im grandiosen Foyer hängt schon seltsame Kunst. Der Bühnenraum selbst hat ungefähr den Zuschnitt der alten Brechtbühne, man ist sofort mit sich und der umständlichen Anreise im Reinen. Und ist es noch mehr, wenn man die Uraufführung von William T. Vollmanns Roman "Europe Central" erlebt hat - für diese lohnt sich jede Strapaze der An- und Abreise.

Der Roman hat etwa 1000 Seiten, je nachdem, wie stark man die Fußnoten mitzählt, und die Regisseurin Nicole Schneiderbauer hat zusammen mit ihrer Dramaturgin Kathrin Mergel daraus eine Spielfassung für vier Stunden, drei Schauspielerinnen, zwei Schauspieler und eine schauspielende Musikerin entwickelt, die die Frage aufwirft, warum Vollmann gar so viel Platz braucht - man vermisst kaum etwas, dampft stattdessen dunkel berührt im Rausch der Assoziationen.

Vollmann, amerikanischer Autor mit deutschen Familienwurzeln, Journalist und Erfinder essayistischer Riesenpanoptiken, ist sicherlich ein positiv Wahnsinniger, ein gnadenloser Rechercheur und Stoffsammler. In "Europe Central" erzählt er in einer mäandernden Parallelaktion, die sich wohl kein Autor des europäischen Kontinents trauen würde, von zwei Diktaturen, der von Stalin und der Hitlers, vom Weg in den Zweiten Weltkrieg, diesem selbst und von dem, was danach kam. Annähernd konsequent lässt er abwechselnd seine 37 Kapitel entweder in Deutschland oder der Sowjetunion spielen, ist manchmal nach fünf Seiten fertig oder schreibt einen Roman im Roman. Kein klarer Erzähler lässt sich dabei ausmachen, es sind viele Stimmen, die hier erzählen, Stimmen der Macht, der Gewalt, der Opfer, der Künstler. Im Zentrum: der titelgebende Apparat und ein Mensch. Der Apparat ist das Telefon, über das man Millionen an der Front verschieben und in den Tod schicken kann, das nachts läutet und den Transport ins Lager ankündigt. Der Mensch ist Dimitri Schostakowitsch.

Schneiderbauer komponiert eine dunkel leuchtende Sprachsymphonie. In einem Ohr hat man einen Ohrhörer, über diesen kommen einem Stimmen knisternd ganz nah. Mit dem anderen Ohr hört man den Raum, die Stimme der Darstellenden ganz natürlich oder über die Lautsprecher in diesem Betonkasten. Oft passiert alles gleichzeitig, nie geht dabei die Trennschärfe verloren. Dazu sieht man die Abdrücke der Worte in den Körpern auf der Bühne. Nichts davon ist eins zu eins, nichts ist Bebilderung, es ist vielmehr ein assoziatives Spiel. Die Darstellenden tragen so etwas wie Uniformen, leicht futuristisch und mit archaischen Details versehen. Geht es in die Schlachten von Leningrad, Stalingrad, Kursk, dann erzählen Vollmann und Schneiderbauer Nibelungen-Mythos (nach Wagner und dem "Nibelungenlied") und Kriegsgeschehen zusammen.

Auf der Bühne verknäuelte oder frei fliegende Stoffbahnen und das Gerippe eines Flügels. In dem macht Ellen Mayer Musik, zitiert etwa das Motiv des ersten Satzes der 7. Symphonie von Schostakowitsch, der "Leningrader". Dessen Leben und Lieben bilden den durchgehenden Strang der Erzählung. Mal Staatskünstler, mal vom Gulag bedroht, liebt er mit Inbrunst seine Frau und Elena Konstantinowskaja, die wilde Dichterin Anna Achmatowa bringt Unruhe in die Sowjetzensur - Karoline Stegemann verleiht für einen langen Moment der Figur eine gleißende Aura zwischen Verletzlichkeit und erotischer Provokation. Käthe Kollwitz besucht Moskau, die Generäle beider Seiten liegen im Clinch und wechseln die Lager, Kurt Gerstein ist entsetzt über die Gräuel in den Vernichtungslagern, die Leiche einer jungen Partisanin stellen die Nazis zur Schau und Hitler ist der "Schlafwandler" auf dem Weg durch die Ruinen Europas.

Im Ohr Momente von Musik, die anrührende Cellosonate oder das Streichquartett op. 110, mit dem Schostakowitsch sein eigenes Requiem schrieb. Klänge in einer Sprachfuge, die Schneiderbauer erfindet und zu großer Wirkmächtigkeit erhebt.

© SZ vom 19.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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