Bosnien-Herzegowina:Die Schätze von Sarajevo

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Eine stolze Mitarbeiterin betrachtet im Museum von Sarajevo einen ihrer Schützlinge. (Foto: Ziyahgafic)

Die Mitarbeiter des Nationalmuseums wurden jahrelang nicht bezahlt - und betreuten die Sammlung trotzdem weiter.

Von Nadia Pantel

Wenn man Ben Stiller ist und in einem Hollywood-Blockbuster eine Nacht allein im Museum verbringt, ist das eine lustige Angelegenheit, bei der Dinosaurier Knochen apportieren. Wenn man Mirsad Sijarić heißt, ist eine Nacht im Museum nur kalt, dunkel und einsam. Bezahlt wird sie auch nicht. "Grauenhaft", fasst Sijarić seine unfreiwilligen Erfahrungen als Nachtwächter zusammen.

Seit vier Wochen darf der 44-Jährige wieder als das arbeiten, was er eigentlich ist: Kurator der mittelalterlichen Sammlung des Nationalmuseums von Bosnien-Herzegowina. Noch zögert er, an dieses Glück zu glauben: "Ich bin zu überwältigt, um mich zu freuen." In Sarajevo ist man an gute Nachrichten nicht allzu gewöhnt.

Sijarić ist einer der 65 Mitarbeiter des Museums, die seit Ende 2011 keinen Lohn mehr bezahlt bekommen haben und vier Jahre lang dennoch beinah jeden Tag zur Arbeit gekommen sind. Sie hatten kein Geld mehr für Krankenversicherung und haben trotzdem sichergestellt, dass an jedem Tag zu jeder Stunde einer von ihnen im Museum ist. Gärtner, Ethnologen, Archäologen, Botaniker und Mitarbeiter der Verwaltung haben vier Jahre lang unbezahlt geputzt, repariert und über ihre vier Millionen Gegenstände reiche Sammlung gewacht. Im ersten Jahr haben sie das Museum noch für Besucher geöffnet. Doch als die Ticketverkäufer und Wachleute nach zwölf Monaten keine Lust mehr hatten auf Gratisarbeit, vernagelte die wissenschaftliche Belegschaft des Museums die Tür im Oktober 2012 mit zwei überkreuzten Brettern. Kein Einlass mehr, nur noch Bewahren und Schützen. Das kleine Wunder, die große Erleichterung kam in diesem Herbst, am 15. September: Das Nationalmuseum öffnete wieder, die Löhne werden wieder gezahlt, und Sarajevo jubelt. In diesen ersten Wochen kamen durchschnittlich 1000 Besucher am Tag.

Ein Oktobermontag am späten Nachmittag. Die Abendsonne fällt durch die halbrunden, meterhohen Fenster auf zwei ergraute britische Pärchen, die sich auf ihre wettermäßig betrachtet unnötigen Regenschirme stützen und Mosaike analysieren. Der Archäologe Sijarić sieht ihnen von der steinernen Freitreppe aus zu und würde sich eigentlich lieber kurz einen Kaffee machen. Das Museum ist weiter chronisch unterbesetzt, er ist Gästebegrüßer, Verwalter und Forscher in einem. Das ist nicht nur viel Arbeit, das ist sein Leben. Ob er während der vier Jahre ohne Lohn nicht irgendwann einfach aufgeben wollte? "Jeden Tag", sagt er. In den Jahren ohne Lohn hat er im alten Haus seiner Eltern auf dem Land gelebt und sich hauptsächlich von selbstangebautem Gemüse ernährt. Wenn er mal Geld auf archäologischen Ausgrabungen verdiente, gab er es aus, um jemanden zu engagieren, der ihm eine Nachtschicht abnimmt. Warum er trotzdem immer weitergemacht hat? "Komm", sagt er, "ich zeige dir was." Sijarić geht in sein Büro, zu einem einfachen Holzschrank und holt ein kleines Papiertütchen zwischen ein paar Büchern hervor. Aus dem Papier fällt ein mit feinen Beschlägen verziertes fingergroßes Stück Gold. "All diese Gegenstände, die kleinen und die großen, das ist alles meine Verantwortung", sagt Sijarić und lässt das Gold wieder in seine Verpackung gleiten. "Bei jedem Objekt stelle ich mir die Jahre und Jahrzehnte an Arbeit vor, die es gekostet hat, sie zu finden. Ich kann diese Sammlung nicht alleinelassen."

Politiker hatten lange kein Interesse an einer Institution, die Religionen nicht trennt

Eine, die mit ihm ausgeharrt hat, ist Marica Filipović. Die stellvertretende Leiterin des Museums sitzt in ihrem Büro und hat eine Steppweste mit Fellkragen über ihren Pulli gezogen. So beeindruckend die riesigen Hallen des Museums mit ihren hohen Wänden und großen Fenstern sind, so schwer sind sie zu heizen. Auch die 63-jährige Ethnologin Filipović hat vier Winter lang neben ihren historischen Trachten und Teppichen gefroren und sich von Mutter und Kindern durchfüttern lassen.

Doch die Geschichte der Schließung des Nationalmuseums von Sarajevo ist nur in Teilen die Heldengeschichte seiner Mitarbeiter. Sie ist auch eine Geschichte über die Ignoranz der Politik. 700 000 Euro kostet der Unterhalt des Museums im Jahr. Auch für ein armes Land wie Bosnien-Herzegowina ist das keine allzu große Summe. Was fehlte, war nicht Geld, sondern der Wille.

Seit der Vertrag von Dayton 1996 den Bosnienkrieg beendete, ist die ehemalige jugoslawische Republik Bosnien-Herzegowina ein Land der verhärteten Fronten. Die herrschenden Parteien machen Politik entlang nationalistischer Linien. Hier ist man nicht einfach Bürger, man ist Muslim und somit Bosniake, oder man ist orthodoxer Serbe oder katholischer Kroate. Die gemischten Ehen, die Atheisten, die Roma, die Juden, sind nicht vorgesehen in der politischen Ordnung. Und auch für eine Institution, die sich als Museum der ganzen Nation versteht, unabhängig von Kategorien wie Volk und Religion, gibt es keinen Platz.

" Ich glaube, wir sind der einzige Staat ohne überregionalen Kulturminister", sagt Marica Filipović. Die politische Führung der bosnischen Serben in der Republika Srpska sah nach den Wahlen 2010 keinen Anlass mehr, ein Museum in Sarajevo zu unterstützen, das zum kroatisch-bosniakischen Teil des Landes gehört. Und die Politiker in der Föderation, in der Kroaten und Bosniaken zusammenleben, versäumten es vier Jahre lang, konstruktiv an dem serbischen Boykott vorbeizuarbeiten. " Wir sind politisch nicht gewollt", sagt Filipović. "Dabei ist das, was wir zeigen so wichtig. Wir zeigen die gemeinsame Geschichte der Menschen, die seit Jahrhunderten in Bosnien leben." Im Museum ist es egal, ob der Boden, indem ein bronzenes Schmuckstück gefunden wurde, heute serbisch, bosniakisch oder kroatisch genannt wird, es sind einfach Fundstücke aus den historischen Regionen Bosnien und Herzegowina.

Dass Filipović in ihrem Museum nun wieder Gäste empfangen kann, verdankt sie zum einen dem neuen Minister für zivile Angelegenheiten, Adil Osmanović, der sich der Sache des Museums pragmatisch und unideologisch annahm, und zum anderen der Initiative "Ich bin das Museum", die in der Stadt auf das Dilemma der Mitarbeiter des Museums aufmerksam machte. Das Geld für Löhne und Betriebskosten ist nun bis 2018 zusammengeklaubt. Doch solange die Politik in Bosnien-Herzegowina über nationalistische Blockadespiele ausgetragen wird, bleibt die Zukunft des Nationalmuseums unsicher.

Die sieben Schulklassen, die im naturhistorischen Trakt durcheinanderwuseln, wissen davon nichts. Sie machen Selfies mit ausgestopften Bären, sie patschen auf Glasscheiben, hinter denen Pilze nach ihrer Giftigkeit sortiert sind, sie zerren einander in der Mineraliensammlung von glitzernden Kristallen zu schimmernden Felsen, in so aufgeregter Geschwindigkeit, als würden sie befürchten, dass einer der Steine doch noch weglaufen könnte.

Ein bisschen wirkt es, als würden Filipović und Sijarić und ihre Mitarbeiter nach den eingesperrten Jahren über all die Menschen noch ungläubig staunen. Das Museum selbst nimmt den Hochbetrieb mit Würde. Die Parkettböden glänzen, Glastafeln ordnen Metallschwerter und Tontafeln ihrem Fundort und ihrer Entstehungsperiode zu und. Von draußen grüßen die Hochhäuser genau jener Straße, die in die Geschichte Sarajevos als Sniper Alley eingegangen ist. Von den Hügeln aus schossen die Scharfschützen der bosnischen Serben auf Straßenbahnen, Menschen und Häuser.

"Für einen Archäologen ist dieses Museum ein Eldorado, das Paradies."

Als Sijarić kurz nach Ende des Krieges anfing, im Museum zu arbeiten, war er noch Student und auf der Suche nach einem Nebenjob. Zwei Jahre lang schleppte er in den großen Hallen Sandsäcke und Schutt, um die Spuren der Verwüstung zu beseitigen. Sein Lohn an seinem ersten Arbeitstag waren ein paar Büchsen Dosenfleisch. Am nächsten Tag nahm ihn einer seiner Mitarbeiter zur Seite, es tue ihm schrecklich leid, aber ob er die Dosen wieder mitbringen könne? Wenigstens die mit Lammfleisch? Es vergingen fünf Monate, bis Sijarić das nächste Mal ein paar Dosen und etwas Geld bekam.

Heute verdient der promovierte Archäologe, der auf Ausgrabungen in ganz Europa gearbeitet hat, 500 Euro im Monat. Dennoch hat er das Gefühl, an einem reichen Ort zu arbeiten. "Für einen Archäologen ist dieses Museum ein Eldorado, das Paradies." Es werde noch Jahrzehnte dauern, bis all die Schätze katalogisiert, erforscht und erfasst sind. In Westeuropa gebe es doch mittlerweile mehr Archäologen als Fundstücke, hier sei es genau umgekehrt. Was die Besucher zu sehen bekommen, sagt Sijarić, sei nur ein Prozent der gesamten Sammlung.

Allerdings ein beeindruckendes Prozent. Hinter einer dicken Glastür liegt das wertvollste Stück der Sammlung: Die Haggada von Sarajevo. Das Schriftstück aus dem 14. Jahrhundert beschreibt in golden leuchtenden Bildern, wie der Sederabend des jüdischen Pessach-Festes zu feiern ist. 1492 brachten spanische Juden das Buch nach Sarajevo. Im Zweiten Weltkrieg versteckte es ein Bibliothekar vor den Nazis. Während der Belagerung Sarajevos in den Neunzigerjahren brachten die Mitarbeiter des Museums die Haggada in einen Safe. Nun ist sie zum ersten Mal seit vier Jahren wieder für Besucher zu sehen.

© SZ vom 19.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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