"Bleeding Edge" von Thomas Pynchon:Showdown mit dem Kapitalismus

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Thomas Pynchon, der Enzyklopäde unter den amerikanischen Romanciers, trauert in seinem Roman "Bleeding Edge" dem alten New York nach und erklärt der Moderne den Krieg. Doch für den ganz großen Wurf reicht das nicht

Von Jörg Häntzschel

Kurz bevor Thomas Pynchons neuer Roman "Bleeding Edge" erschien, stürzte der Verlag die Fangemeinde des Schriftstellers mit dem Trailer zum Buch in Verwirrung. "Listen", erklärt dort ein grinsender 30-Jähriger im "I'm Thomas Pynchon"-T-Shirt, "they call me the king of the Upper West Side, they call me Sleazus". Er nimmt uns mit zum Fairway-Supermarkt und plappert vom Käse-"Terroir"; zu Zabar's, wo er täglich sieben bis zwölf Pfund Räucherlachs kauft, und legt sich dann auf einer Parkbank die öligen Lachslappen ins Gesicht: "ein natürlicher Exfoliant. Die Konzerne wollen nicht, dass Sie das erfahren."

Wie bitte? Der Verlag hatte allen Ernstes einen mit Quatsch-Brille kostümierten Comedian beauftragt, das neue Werk eines der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller zu bewerben? Und eines, dessen knapp 500 Seiten für den Stoff kaum ausreichen können: Pynchons 9/11-Roman, Pynchons Internet-Roman, Pynchons NSA-Roman?

Vielleicht sollte der herrlich alberne Trailer nicht nur buzz erzeugen, sondern "Bleeding Edge" auch gegen überzogene Erwartungen imprägnieren. Nichts verschlänge man im Moment gieriger als ein zweites "Gravity's Rainbow", Pynchons aus Physik, Paranoia, und dem Müll des Zweiten Weltkriegs aufgeschichteten Turm von Babel. Doch "Bleeding Edge" ist dieses Buch nicht. Pynchon ist bei aller Wut über den Gang der Welt viel zu heiter und ironisch, um sich mit 76 noch einmal in derart beängstigende Abgründe zu stürzen. Nur einmal gibt der Boden jäh nach. Da ist die Rede von einem Lager für "militärische Zeitreisende", die als Kinder gekidnappt, umgedreht und "ohne Betäubung operiert" werden. Doch der Leser darf sich trösten: Das Geheimlager ist nur eine von vielen schillernden Blasen, die aus der Parallelwelt des "Deep Web" aufsteigen.

Wie im falschen Buch

In "meatspace", der realen New Yorker Upper West Side, müssen Kinder keine "erdgeborenen Aliens" fürchten, sondern allenfalls die Pädagogik der von einem Freud-Jünger gegründeten Otto-Kugelblitz-Schule ("Klapse mit Hausaufgaben"). Wenn Maxine Tarnow dort ihre beiden Söhne abliefert und mit den anderen Müttern plaudert - zu wenig Zeit, zu kleine Wohnungen -, fühlt sich der Leser wie im falschen Buch.

Erleichtert erfahren wir später, dass in Maxines Handtasche eine Beretta herumfliegt. Getürkte Bilanzen, Wirtschaftsbetrug, das ist ihr Metier, doch dem sportlichen Anspruch ihres Firmennamens - "Tail 'em and nail 'em - wird sie erst jetzt gerecht, da sie ihre Lizenz verloren hat und in bester Noir-Tradition nach eigenen Gesetzen für Gerechtigkeit sorgt.

Es ist das Frühjahr 2001. Die Dotcom-Blase ist geplatzt, ihre schlaffen Reste hängen "in grellem Pink über dem bebenden Kinn der Ära". Die abzuwickelnden Träume gieriger Mittzwanziger erweisen sich als Goldgrube. Doch in den zwangsgeräumten Lofts der Silicon Alley stößt sie außer auf illusorische Geschäftsmodelle immer wieder auf denselben Namen: hashslingrz. Hinter dem ominösen Startup steht ein Netz-Mogul namens Gabriel Ice, der seinen Reichtum mit Serverfarmen in der Arktis mehren will - und nicht nur damit.

Wie immer bei Pynchon vermehrt sich das Personal nun exponentiell. Darunter sind so bunte Gestalten wie Nicholas Windust, ein CIA-Scherge mit Blutspur durch ganz Südamerika; Conkling Speedwell, "professionelle Nase" und Erfinder der Geruchskanone The Naser; Eric Outfield, Hacker und Fußfetischist; oder Lester Traipse, Ex-Coder von hwgaahwgh.com, der mit einer Klinge im Kopf im Luxus-Wohnhaus The Deseret gefunden wird.

Und dann kommt 9/11 als Finale einer Reihe immer dichterer Hinweise und Vorahnungen. Geldtransfers aus dem Nahen Osten, Videos von Stinger-Raketen, die auf Dächern positioniert werden; auffällige Fluktuationen im Handel von Airline-Aktien. Pynchon scheut sich nicht, neben Myriaden anderer auch die Theorien der 9/11 "Truthers" durch seinen Roman schweben zu lassen. Nicht weil er daran glauben würde, sondern um ihr Schimmern zu genießen.

Wider den eigenen Plot

Doch statt sich je festzulegen, nimmt Pynchon die Paranoiker und ihr Motto "Nichts ist, was es scheint" beim Wort. Kaum scheint alles klar, platzt er dem eigenen Thriller-Plot mit einem seiner Gags in die Parade. Der russische Mafioso Igor Dashkov handelt aus dem Kühlfach seines gepanzerten ZiL-41047 heraus, mit dem später eine Mikrowellenbombe transportiert wird, auch mit russischem Gourmet-Eis ("Fucking Nestlé!"). Und nach dem großen Showdown jammert der Fahrer von Gabriel Ice, nun seien seine Tickets für "Mamma Mia" verfallen. Gäbe es die Warnstufen der Homeland Security noch, würden sie hier ständig zwischen Giftgrün und Blutrot flackern. Pynchon erzählt zwei Romane gleichzeitig: einen finsteren Thriller und eine absurde New Yorker Komödie, in der auch Halloween und Thanksgiving nicht fehlen. Am Ende versöhnt sich Maxines gar mit ihrem Ex Horst Loeffler.

Das heißt nicht, dass Pynchon seinen Frieden mit der Welt gemacht hätte. Nur ist nicht Gabriel Ice, sondern "late fucking capitalism" der eigentliche Bösewicht. Er kolonialisiert die letzten utopischen Winkel des Internet ebenso wie die letzten Ecken New Yorks, die noch nicht von "Yups" und Milliardären besetzt sind. "This land is my land, and this land is also my land!" singen sie schamlos. Wenn er allerdings über die "Disney Hell" des Times Square schimpft, über ungehobelte Fußgänger und träumt vom alten New York, voller Schmutz, Laster und ungesundem Essen, riskiert Pynchon, der seit Jahrzehnten als sein eigener Geheimagent undercover an der "Yupper West Side" lebt, sich zu enttarnen - als grumpy old man.

Vielleicht kommt noch ein ganz großer Wurf

Er sollte sich lieber weiter in seinem Spiegelkabinett aus Sprachwitz und delirantem, enzyklopädischem Wissen verstecken. Seit dem Tod von David Foster Wallace gibt es keinen anderen, der auf die Idee käme, einen kalifornischen Therapeuten "idiot surfant" zu nennen. Niemand sonst weist darauf hin, dass Hitler und Kennedy dasselbe Eau de Cologne benützten, 4711. Apropos Hitler: Wer sonst kennt die Band Elvis Hitler und ihr Mashup aus Jimi Hendrix' "Purple Haze" und dem Song der Fernsehserie "Green Acres": I just adore a Penthouse view / Dah-ling I love you but give me Park Avenue." Niemand sonst würde die Gäste einer opulent beschriebenen letzten großen Dotcom-Party auch noch auf den "Godfather of postmodern toilets" schicken, dort einen DJ installieren, der wiederum den ehemaligen Chartbreaker "In the Toilet" der angeblichen Siebziger-Band Nazi Vegetable auflegt: "All those mirrors, lotsa chrome, stuff you'd / Never do at home, here in thuhuh / Toi-let."

Während die Pynchon-Fans nun wieder ein paar Jahre zu tun haben, diese und andere Details zu verschlagworten, kann man nur hoffen, dass dem scheuen Mann von der Ecke Broadway und 75. Straße noch die Energie für mindestens einen ganz großen Wurf reicht. Diesmal bitte wirklich finster!

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Penguin Press, New York 2013. 498 Seiten, 28,95 Dollar.

© SZ vom 26.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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