"Vollkommen glücklich bin ich wohl nur, wenn ich schreibe", bekannte Astrid Lindgren 1958 ihrer deutschen Freundin Louise Hartung: "Damit meine ich nicht eine bestimmte Schaffensperiode, sondern genau die Augenblicke, in denen ich tatsächlich schreibe."
Zu dieser Zeit hatte sich die 1907 geborene Autorin schon längst zur Chronisten ihres Lebens und ihrer Zeit entwickelt. Mit den Tagebucheinträgen über politische und persönliche Ereignisse, ihren zahllosen Briefen an Freunde und Verwandte, mit ihren Notizen in ihrem Haushaltsbuch über die Entwicklung der Kinder und der Korrespondenz als Lektorin bei Raben & Sjögren.
Für sein Buch "Astrid Lindgren. Ihr Leben", sichtete Jens Andersen das riesige Archiv, wählte zahlreiche Zitate und Fotos aus. Und versuchte eine Verbindung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit als literarische Spur ihres Lebens darzustellen. Am Anfang begegnet man einer stürmischen, jugendlichen Astrid, die gegen das Leben in der småländischen Kleinstadt rebelliert - einer Bauerntochter, die sich eine Zukunft als Journalistin wünscht und ein Volontariat in der Zeitung antritt.
Ein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt
Ausführlich wird dargestellt, wie sie mit ihren Freundinnen Wandertouren unternimmt und darüber schreibt, dass sie sogar die Pianistin Elly Ney treffen, oder wie ein "gut gelaunter Deutscher auf ihr Wohl trinkt". Der Autor lässt seiner Erzähllust viel Raum, er will nicht nur ein Lebens-, sondern auch ein Zeitbild entwerfen, das die Leser über die Persönlichkeit von Astrid Lindgren hinaus mit der schwedischen Kultur- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts vertraut macht und eine Fundgrube für Skandinavisten sein dürfte.
Ein Motiv, das immer wieder in den Schriften und Reden Astrid Lindgrens auftaucht, ist der Einsatz für die Rechte von Frauen und Kindern. Mit diesen Rechten musste sie sich schon als Achtzehnjährige auseinandersetzen, denn sie wurde Mutter eines unehelichen Sohnes.
Ein Skandal, der sie fluchtartig nach Stockholm aufbrechen ließ. Es hätte ihr nicht gefallen, dass Jens Andersen diesen Teil ihres Lebens so ausführlich darstellt, dem Vater des Kindes, dessen Existenz sie lange nicht preisgab, so viel Platz einräumt. Der Autor nutzt dieses vor der breiten Öffentlichkeit geheim gehaltene Ereignis - erst mit 70 Jahren sprach sie in der Biografie von Margareta Strömstedt darüber - für seine Theorie, dass Astrid Lindgren ein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt war, weil sie ihren Sohn Lasse drei Jahre bei einer Pflegemutter in Kopenhagen untergebracht hatte. Schuldgefühle, die der wahre Grund für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte der Kinder waren und sich nach Ansicht des Autors auch bei einigen Helden ihrer späteren Kinderbücher, zum Beispiel in "Mio, mein Mio", zeigten.
Allmählich beginnt Astrid Lindgren dann literarische Texte zu verfassen, die sie auch zu Wettbewerben einreicht. Ihr Frühwerk, ihre ersten 15 Geschichten, die hier genau analysiert werden, sind wohl nur für die schwedische Literaturwissenschaft von Bedeutung. Sie hatte 1931 geheiratet, bekam ihre Tochter Karin, doch die Ehe gestaltete sich sehr viel schwieriger, als der Biograf hier andeutet. Sie lebte nun als Hausfrau und Mutter zweier Kinder und beobachtete, wie in ihren gerade auf Deutsch erschienenen Tagebüchern beschrieben, die politische Weltlage und später das Kriegsgeschehen, auch als Postkontrolleurin für den Geheimdienst.
"Niemals Gewalt" hieß ihre Rede bei der Verleihung des Friedenspreises
Eine direkte Folge dieser Zeit war nach Andersen die Arbeit an Pippi Langstrumpf: "Die Figur Pippi Langstrumpf wurzelt in den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und in Astrid Lindgrens Abscheu vor Gewalt, Demagogen und totalitären Ideologien." Bis das Buch erschien, war es ein weiter, hier ausführlich beschriebener Weg durch die schwedische Verlagswelt, bei der auch die Bekanntschaft und spätere Freundschaft wichtiger Kulturvermittler wie der Kinderbibliothekarin Elsa Olenius half. So erschien nicht nur ihr gesamtes Werk bei Raben & Sjögren, sie wurde dort selbst als Cheflektorin der Kinderbuchabteilung eingestellt.
70 Jahre Pippi Langstrumpf:Das unsterblichste Mädchen der Welt
Stärke, Mut und Hilfsbereitschaft: In Pippi Langstrumpf vereinigen sich so viele positive Eigenschaften, dass die Figur unsterblich geworden ist. 70 Jahre nachdem sie von Astrid Lindgren erfunden wurde, wird sie in Schweden jetzt groß gefeiert.
Der literarische Erfolg bringt es mit sich, dass Astrid Lindgren zunehmend zu einer wichtigen politischen Stimme in Schweden wird. So setzt sie sich gegen überhöhte Steuern ein, kämpft gegen Atomkraft und Kinderpornografie. Wieder zieht ihr Biograf eine Parallele zu ihrem Werk: "Mit ,Ferien auf Saltkrokan' und nicht zuletzt ,Michel in der Suppenschüssel' begann Astrid Lindgren den letzten großen Abschnitt ihres Werks und ihres Lebens, in dem sie als Humanistin, Zivilisationskritikerin und politische Aktivistin auftrat."
Erwähnt wird auch ihre berühmte Rede "Niemals Gewalt" zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels - ansonsten gibt es wenig zu Astrid Lindgrens internationaler Rolle, zu sehr hat Jens Andersen sie in der schwedischen Kulturgeschichte verankert. In Deutschland wurden nicht nur ihre Bücher begeistert gelesen. Durch ihre Vermittlung erschienen beim Oetinger Verlag auch wichtige Titel der skandinavischen Jugendliteratur, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren deutsche Autoren inspirierten.
Gepackt von ihrer Ironie
In der Stofffülle dieser Biografie droht die Persönlichkeit Astrid Lindgrens manchmal zu verschwinden. Aber wenn man dann zu ihren Büchern greift, wird man wieder gepackt von ihrer Ironie, ihrem unsentimentalen Umgang mit ihrem Leben, ihrer Schlagfertigkeit. Auf die Frage, ob sie pädagogische Absichten mit ihren Büchern verfolge, antwortete sie noch als 90-Jährige: "Nein, darauf pfeife ich."
Jens Andersen: Astrid Lindgren. Ihr Leben. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 447 S., 26,99 Euro. E-Book 21,99 Euro. (Am Montag um 20 Uhr wird die Biografie in der LMU in München vorgestellt.)