Bildband von Roger Melis:"Die Ostdeutschen"

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(Foto: N/A)

Von Gustav Seibt

In diesem Frühsommer war eine Berliner Ausstellung mit dem Titel "Die Ostdeutschen" ein Überraschungserfolg, der ein wenig am überregionalen Publikum vorüberging, weil sie in einer alten Fabrikhalle in Schöneweide stattfand. Wäre man hingegangen, hätte man die Ironie des Titels erkannt: Die Fotografien aus der DDR, die hier zu sehen waren, zeigten kein Kollektiv, keinen Stamm, sondern eine Gesellschaft von Eigensinnigen und Individualisten, und zwar durch alle Schichten und Berufe.

Der Urheber dieser beeindruckenden Meisterwerke aus einem halben Jahrhundert war Roger Melis, der 2009 verstorbene Ziehsohn des Dichters Peter Huchel, der eine Künstlerexistenz am Rande der DDR führte und erst nach der Wende zu einer nationalen Berühmtheit wurde.

Melis, eigensinnig wie die von ihm fotografierten Menschen, arbeitete mindestens ebenso viel für sich selbst wie für Auftraggeber in Zeitungen und Magazinen. Er entwickelte dabei eine frappierende Fülle von Möglichkeiten, die von der szenischen Industrie- und Arbeitsreportage, der Architektur- und Landschaftsfotografie bis zum mal repräsentativen, mal intimen Porträt reichten. Legendär sind seine durchaus glamourösen Bilder von Künstlern und Autorinnen der DDR. Auch die Architekturen und Landschaften dieser Aufnahmen werden nie um ihrer selbst willen gezeigt, es sind Bühnen für die Menschen, die darin leben und arbeiten.

Es ist die alte, noch handwerklich geprägte Industriearbeit, die hier historisch zum letzten Mal in den Blick kommt. Dabei hat Melis, das zünftische Bildnis von Berufstätigen, das August Sander in den Zwanzigerjahren entwickelte, ingeniös neu belebt, und zwar so klassenübergreifend wie sein Vorbild: Vom Arbeiter im Reifenwerk bis zum bürgerlichen Denkmalpfleger sind alle Schichten vertreten. In manchen Fällen hat er seine Leute sogar Sander'sche Haltungen und Gesten nachspielen lassen, eine besonders reizvolle Form des szenischen Zitats. Auch das gehört zum stillen Witz, den viele von Melis' Arbeiten zeigen. Aus dem meist menschenfreundlichen Humor wird Sarkasmus, wenn Melis bei Umzügen und Paraden hinter die am Straßenrand stehenden Zuschauer geht und die Rückseite aus Spott und Langeweile beim Publikum zeigt. Auch diese besondere Form von Ungläubigkeit gehörte zur DDR und wirkt bis heute nach.

Nun hat der Lehmstedt-Verlag zwei fantastische Bildbände vorgelegt, als Neuauflage "In einem stillen Land" und als Neuerscheinung den Band "Die Ostdeutschen" (224 Seiten, 28 Euro), der einen Querschnitt aus Melis' Nachlass bietet, ausgewählt von seinem Erben Mathias Bertram.

Das "Justus" genannte Kinderporträt entstand 1964, da war Melis 24 Jahre alt. Die zarte Mitte zwischen scheuem Rückzug und gespannter Neugier, die das Bild zeigt, entfaltet eine ganze Szene, in der man die Kommunikation zwischen dem porträtierten kleinen Menschen und seinem fotografierenden Gegenüber ahnt. Das Genre des Bildes kommt selbst in den Blick, weil über dem Kind ein zweites Porträt hängt. Ein weiteres, in den Rahmen rechts gestecktes Bild, zeigt den Vater - es ist der Dichter Johannes Bobrowski - mit dem Sohn als Säugling. Alle drei kindlichen Augenpaare sind auf den Betrachter gerichtet. Justus, das porträtierte Kind, dürfte heute 60 Jahre alt sein. Vielleicht sollte man öfter an solche Aufnahmen denken, bevor man Kollektive wie "die Ostdeutschen" bemüht.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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