Neuer Roman von Dan Brown:Was soll man nur von der Intelligenz des Helden halten?

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Für die Abwesenheit von Erfahrung sorgt schon die Geschwindigkeit, mit der Robert Langdon alle bisher von chinesischen oder auch amerikanischen Reisegruppen aufgestellten Rekorde im Abklappern von spanischen Sehenswürdigkeiten lässig übertrifft. Aber sie hat Prinzip, und dieses Prinzip ist unmittelbar mit Wirkung und Erfolg dieser Romanserie verknüpft.

"Sightseeing" ist nicht nur der Ausschluss von Erfahrung, sondern auch deren Vernichtung

Denn eine Sache ist es zu erkennen, wie unbeholfen dieser Roman gebaut ist. Und man braucht keine besonderen Kenntnisse der Literatur, um eine Vorstellung davon zu haben, wie wenig Dan Brown vom Schreiben versteht - jedes Mal, wenn etwas Außerordentliches passiert (und das geschieht oft), fallen den Beteiligten die Kinnladen herunter, es wimmelt von "erstaunlichen" und "schockierenden" Ereignissen, und wenn etwas "entsetzlich" sein soll, ist es im nächsten Satz auch "grausig".

Nein, all diese Einwände sind geschenkt. Aber was soll man von der Intelligenz des Helden (und eines Autors) halten, der Gedanken wie diesen zustande bringt: "Langdon vermutete, dass Edmonds beinahe gespenstische Fähigkeit, richtige Prognosen zu treffen, auf sein enzyklopädisches Wissen zurückzuführen war." Ehrlich, und nicht vielleicht auf den übermäßigen Verzehr von Kirschkuchen oder auf eine traumatische Begegnung mit einem durchgedrehten Alien? Doch auch solche Einwände gehören zum Repertoire der Kulturkritik. Sie wirken in diesem Zusammenhang nur arrogant, und sie verfehlen ihren Gegenstand in seiner grausigen Größe.

Genug der Trommelwirbel. Wirkung und Erfolg dieser Romanserie beruhen darauf, dass das Prinzip des Sightseeing in allen seinen Elementen verwirklicht ist. Robert Langdon tut keinen Schritt, ohne nicht zugleich ein ideelles Selfie zu machen - dergestalt, dass er sich ständig überlegt, wo er ist und was er gerade wahrnimmt. Wenn er also der Sagrada Família angesichtig wird, dann sieht er nicht nur das Gebäude, sondern denkt auch, dass er diese Kirche sieht, während gleichzeitig - ob in seinem Inneren oder durch den Autor ist meist nicht zu erkennen - eine Art Wikipedia-Eintrag vorgetragen wird: "Nach seiner Fertigstellung wird der höchste Turm der Sagrada Família bis in schwindelerregende einhundertzweiundsiebzig Meter Höhe aufragen - höher als das Washington Monument -, womit sie die höchste Kirche der Welt sein wird, mehr als dreißig Meter höher als der Petersdom im Vatikan."

Beim Wort "schwindelerregend" mag es sich um eine schwache Erinnerung an etwas Lebendiges handeln. Der Rest indessen hat, in Form und Inhalt, ebenfalls mit Wahrnehmung und Erfahrung nichts zu tun, sondern bedient das Sightseeing, indem es der Ansicht durch das Addieren von Informationen einen leeren Schein von Bedeutsamkeit verleiht.

Sightseeing heißt deswegen nicht nur, dass es ein Sehen ohne Wahrnehmung und Erfahrung gibt, um vom Wissen gar nicht erst anzufangen. Sightseeing bedeutet vielmehr auch, dass die Ansicht die Wahrnehmung vernichtet. Wem es vor allem auf das Bild der Sagrada Família ankommt - oder darauf, dass Bild und Augenschein übereinstimmen -, der hält die Reproduktion längst für das Eigentliche und das Original für eine Erfindung. Und bei dieser Umkehrung handelt es sich um sehr viel mehr als um den Einfall eines mittelmäßigen Schriftstellers aus den Vereinigten Staaten. Sie gehört vielmehr zur Beschreibung eines Weltzustands, in der es gewöhnlich ist, jedes Ding und jedes Ereignis, auch der intellektuellen Art, nach dem ihnen potenziell innewohnenden symbolischen Wert (und das heißt vor allem: nach ihrem Sensationswert) zu beurteilen. Deswegen gleichen Dan Browns Romane - in der Spekulation auf das Sensationelle, in der Form der Darbietung in Gestalt von dramatisch hergerichteten Informationen ("Daten"), in der Bindung an die kurze Frist - in die Länge gezogenen Vorträgen auf Ted-Konferenzen.

Entsprechend trostlos fallen die angeblich welterschütternden Erkenntnisse aus, die Edmond Kirsch der - ebenso angeblich - fassungslosen globalen Öffentlichkeit darbietet. Sie seien hier, entgegen den Gepflogenheiten der Literaturkritik im Umgang mit Kriminalromanen und "Thrillern", verraten, ihrer erschütternden Trivialität wegen. "Woher kommen wir?", hatte Edmond Kirsch zuerst gefragt. Die Antwort: "Ich hoffe sehr, wir können eines Tages beweisen, dass das Leben tatsächlich spontan aus lebloser Materie entstanden ist." Worauf der Professor so reagiert: "Faszinierend, überlegte Landon, eine klare wissenschaftliche Theorie", und der Satz ist leider so wenig ironisch wie ein Loch im Kopf. Die komplementäre Frage lautete: "Wohin gehen wir?" Na klar, in eine biologisch-technische Zukunft, in das Paradies der Ted-Konferenzen, wohin sonst? "Wir werden über Kräfte verfügen, die unsere kühnsten Träume übersteigen."

Von solcher Art sollen die Geheimnisse sein, deretwegen Weltverschwörungen begründet und Wissenschaftler ermordet werden, während die Weltreligionen den Notstand ausrufen? Braucht es noch mehr Beweise, dass übertriebenes Sightseeing dem Verstand schlicht nicht guttut?

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