Im Englischen gibt es ein Wort für die Tätigkeiten, die den Tourismus in seiner trivialen Form ausmachen. Es lautet "Sightseeing", und man muss eine Weile nachdenken, um den darin verborgenen abgründigen "Code" zu verstehen: Denn was sieht man, wenn man Sightseeing betreibt? Nein, nicht, was man zu sehen glaubt, nämlich die Museen, die Gebäude, die fremden Landschaften. Was man sieht, ist vielmehr eine "sight", eine "Ansicht". Man sieht das schon Gesehene. Und das verhält sich, sagen wir: zur Basilika von Barcelona wie eine Ansichtskarte (auch dies ein abgründiges Wort) zur tatsächlichen Sagrada Família - das Bild ist zu einem eigenen Gegenstand geworden, an dem sich der leibhaftige Gegenstand zu messen hat (und keineswegs umgekehrt).
Deswegen ist der Tourismus in seiner trivialen Form so brutal und so zerstörerisch: Denn es geht ihm ja gar nicht um das Ferne und Fremde, sondern um die "sight". Er kennt keine Erfahrung, er nimmt nicht wahr, und er will nichts wissen. Seine Ansprüche sind erfüllt, wenn sich erweist, dass die Dinge, die man sehen wollte, den massenhaft vertriebenen Ansichten gleichen, die von diesen Dingen im Umlauf sind. Dann wird ein Selfie gemacht. Auch das hat seinen Sinn. Das Selfie ist die Ansicht einer Ansicht, einschließlich einer Ansicht des Fotografen.
Was passiert, wenn das Rätsel nicht gelöst wird? Fällt dann die Welt in geistige Umnachtung?
In den Romanen des amerikanischen Schriftstellers Dan Brown wird das Prinzip des Sightseeing in Literatur verwandelt, nicht zur Belehrung, angeblich aber zum Vergnügen eines Publikums, zu dem mittlerweile die halbe Welt zu gehören scheint. Mehr als 200 Millionen Exemplare der vier Romane, in denen ein Historiker und "Symbologe" namens Robert Langdon nicht nur der Kunst- und Geistesgeschichte, sondern der Menschheitsgeschichte deren tiefste Geheimnisse zu entreißen sucht, sind mittlerweile im Umlauf, vierzehn Millionen davon im deutschen Sprachraum. Am Dienstag dieser Woche erschien nun, in fünfzig Sprachen gleichzeitig, der fünfte Band dieser Serie. Er trägt den Titel "Origin" (Lübbe Verlag, 672 Seiten, 28 Euro) und gehorcht denselben dramaturgischen Gesetzen, die den vorhergegangenen Bänden zugrunde lagen: Der Professor wird, aus welchen Gründen auch immer, in ein paar kunsthistorische Sehenswürdigkeiten von globalem Rang katapultiert, um dort einer "welterschütternden Wahrheit" auf die Spur zu kommen, die über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende verborgen lag.
Aber die Feinde der Aufklärung sind selbstverständlich ebenfalls schon unterwegs, und so entspinnt sich eine wilde Flucht, die von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit führt und als eine Art Schnitzeljagd organisiert ist, wie man sie von Computerspielen her kennt: Ständig müssen Rätsel gelöst werden, damit man auf dem nächsten Level weitermachen kann. Und damit die Geschichte mit der gebührenden Geschwindigkeit vorankommt, ist die Lösung der Rätsel an eine Frist gebunden, bei deren Überschreitung die Welt mindestens in ewige geistige Umnachtung zu fallen droht.
Nach Spanien verschlägt es Robert Langdon dieses Mal, und selbstverständlich wird alles aufgeboten, was Spanien (Ansichtskarte) so besonders spanisch macht: In Bilbao, im Guggenheim-Museum, will Edmond Kirsch, ein ehemaliger Student des Professors und überaus erfolgreicher Informatiker (Ansichtskarte, kombiniert aus einem Bild Elon Musks und einem Porträt Robert Kurzweils) eine wissenschaftliche Entdeckung präsentieren, die er mit Hilfe eines von ihm entworfenen, allen vorhandenen Geräten unendlich überlegenen Computers gemacht haben soll: eine "Entdeckung, die das Gesicht der Wissenschaft für immer verändern wird".
Hundert Seiten vergehen, bis diese Präsentation endlich beginnt, hundert Seiten voller anschwellender Trommelwirbel. Dann erst tritt der geniale Wissenschaftler und Unternehmer auf: "Der Ursprung des Lebens ... Seit den Tagen der ersten Schöpfungsgeschichten ist er ein Mysterium geblieben. Seit Jahrtausenden suchen Philosophen und Wissenschaftler nach einer Spur dieses allerersten Augenblicks des Lebens ..."
Zwar ist diese Behauptung falsch - denn zur Unterscheidung des Belebten und des Unbelebten kommt es erst mit den beginnenden Naturwissenschaften (das mythologische Denken begreift beides als Momente ein und derselben Schöpfung, und das gilt auch für das Alte Testament). Aber was soll's? Einen Augenblick später liegt Edmond Kirsch auf dem Museumsboden, mit einem Loch in der Stirn, erschossen von einem alten Admiral in der glänzenden Montur der spanischen Flotte (Ansichtskarte). Und schon tobt der Kindergeburtstag los auf seiner lärmenden Schnitzeltour, quer durch "El Escorial" (Ansichtskarte) und die königliche Familie (Ansichtskarte), das Kloster Montserrat (Ansichtskarte) und die Spitze des katholischen Glaubens, am Valle de los Caídos (Ansichtskarte), dem Grabmal Francisco Francos, vorbei und die Sagrada Família (Ansichtskarte) hinauf und herunter.