Berliner Jazzfest wird digital:Zugeschaltet aus dem Roulette

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Im Lockdown nur online: Jazzfest-Chefin Nadin Deventer im Kulturzentrum Silent Green im Berliner Wedding, das zum Streamingstudio umgebaut wurde. (Foto: Votos - Roland Owsnitzki)

Digitale Transatlantikbrücke: Beim Berliner Jazzfest setzt die Leiterin Nadin Deventer die Streaming-Technologie selbst als Instrument ein. Über eine wegweisende Idee.

Von Andrian Kreye

Es war nur eine Frage der Zeit, dass sich mal jemand überlegt, wie man das Streaming nicht nur als Technologie, sondern auch als Instrument benutzen könnte. Wenn das Jazzfest Berlin an diesem Donnerstag gratis für alle seinen Betrieb im digitalen Raum aufnimmt, könnte das, so wie es aussieht, der Beginn eines neuen Umgangs mit einer Technologie sein, die bisher noch als Krücke des Alltags behandelt wird.

Die Frau, die das angestoßen hat ist Nadin Deventer, die das Festival mit der langen transatlantischen Geschichte seit zwei Jahren führt. Sie meldet sich über die Zoom-App ihres Smartphones aus dem Silent Green, dem Kulturzentrum im Wedding, das früher mal ein Krematorium war, was ausnahmsweise überhaupt nicht von allegorischer, aber durchaus architektonischer Bedeutung ist.

Man merkt ihr an, dass sie unter Strom steht. Nicht die Erschöpfung. Das enorme Energielevel. Immer wieder musste sie umplanen. Jetzt ist alles auf Kurs. "Ich würde die Halle am liebsten nicht mehr verlassen, bis das Festival vorbei ist", sagt sie in einem Ton der Begeisterung, der selten ist dieser Tage. Sie schreitet dann mit der Handykamera erst einmal die riesige Rampe in den Saal hinunter, in dem die Zuschauer sitzen sollten und der jetzt gerade zu einer Art Fernsehstudio umgebaut wird. Weil keine Zuschauer kommen dürfen.

Um ein Haar hätten auch keine Musiker auftreten dürfen. "Ich bin Klaus Lederer dankbar, dass er im für uns letzten Moment dezidiert Proben und Streams in Theatern und Veranstaltungsorten erlaubt hat. Deswegen kann das Festival, zwar ohne Publikum vor Ort, aber im Livestream stattfinden." Der Berliner Kultursenator hat als einer der wenigen Politiker dieser Tage mal realistisch im Sinne des Kulturbetriebs mitgedacht.

Nadin Deventer hat schon seit März im Sinne des Seuchenschutzes geplant. Es gab von Anfang an die Überlegung, sich auf Bands und Musizierende aus Berlin und New York zu konzentrieren. Jeweils sechs Bands, die die Musik ihrer Stadt gerade prägen. In Berlin zum Beispiel Lisa Allemano's Ohrenschmaus, Training und Potsa Lotsa XL. In New York Joel Ross' G ood Vibes, Craig Taborns Trio und Ingrid Laubrock. Im Kulturlockdown mit Reiseverboten ist das die Rettung.

Eine digitale Transatlantikbrücke war von Anfang an mit eingeplant. In New York werden die Musiker im Roulette spielen, einem Avantgarde- und Jazzclub, der Ende der Siebzigerjahre von Musikern in einem Loft in Downtown Manhattan gegründet wurde und inzwischen in einem alten Theater in Brooklyn untergebracht ist. Und weil dort oft Platten und Videos aufgenommen werden, gab es da eh schon sechs Kameras. Das alles wird über eine Standleitung miteinander verbunden, von Radiosendungen, Fernsehübertragungen und Videoarbeiten ergänzt. Ein Mordsaufwand. Nadin Deventer weiß, wie privilegiert sie ist mit einem Festival, das so viel finanziellen Rückhalt hat. Ein traditionelles Festival wird es jedenfalls nicht. Aber das mit der Tradition ist im Jazz ja so eine Sache. Seit den Frühzeiten war es der Bruch mit den Traditionen, der das Jazzfest berühmt machte. Don Cherrys "Symphony for Improvisers". Peter Brötzmanns Gründung des Total Music Meeting. Carla Bleys Publikumsbeschimpfung "Boo to you too".

Was nach Reizüberflutung klingt, ergibt im Netz ein schlüssiges Gesamtbild

Wer weiß, ob die Projekte in diesem Jahr eine ähnliche Langzeitwirkung entwickeln. Möglich wäre es. Die Aktionen in der Kuppelhalle zum Beispiel. "Die ist wie geschaffen für audiovisuelle Produktionen. Das werden nicht nur Konzerte sein. Da arbeiten Künstler mit. Da gibt es gesprochenes Wort." Der Pianist Alexander Hawkins wird am Samstag beispielsweise mit dem Saxofonisten Shabaka Hutchings sowie dem Bassisten Petter Eldh und dem Künstler Siska aus Berlin das Stück "Sunnosphere" aufführen, bei dem die Improvisationen genauso dazugehören wie arabischer Rap und Projektionen auf eine Discokugel.

Und dann gibt es noch die rein digitalen Arbeiten der Reihe "Jazzfest Off Stage", die das Jazzfest in Auftrag gegeben hat. Videoarbeiten, die auf dem Webportal des Jazzfestes abrufbar sind. Da verwendet zum Beispiel das KIM Collective das Berliner Art-Deco-Gebäude des Henri Hotels als eine Art Architekturinstrument. Die Saxofonistin Matana Roberts aus Chicago hat eine Arbeit aus Bildern, Worten und Tönen über die Gewalt der Staatsgewalt abgeliefert. Die Lyrikerin Camae "Moor Mother" Ayewa von der Politjazzgruppe Irreversible Entanglements hat ein Gedicht geschickt. Ach ja, Übertragungen aus anderen Städten gibt es auch noch.

Was nach Reizüberflutung klingt, ergibt im Netz ein in sich schlüssiges Gesamtbild eines Stroms, der der Grundhaltung des Jazz mehr als gerecht wird. Die Streamingwelt ist ja nicht der erste technische Fortschritt, den der Jazz umarmt und für die eigene Evolution nutzt. Mikrofon, Aufnahmestudio und Synthesizer waren alles mal Neuerungen, für die der Jazz neue Verwendungen und dann auch Formen fand. Warum sollte das diesmal anders sein.

Berliner Jazzfest, 5. bis 8. November auf www.berlinerfestspiele.de.

© SZ vom 05.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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