Berlinale:Lebenszeichen

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Gegen den männlichen Kanon: Die Retrospektive "Selbstbestimmt. Perspektiven von Frauen" zeigt Fundstücke von deutschen Filmemacherinnen in Ost und West.

Von Susan Vahabzadeh

Im Kino von gestern kann man ganz oft sehen, wie die Zeit an der einen Stelle an uns vorübergerast ist; und an einer anderen ganz stillsteht, als hätte sich die Erde nicht gedreht. Die Münchner Regisseurin Katrin Seybold ("Die Widerständigen") hat 1978 einen kleinen Dokumentarfilm namens "Fraueninitiative Scharnhorst" gedreht. Da geht es um eine ganze Reihe Frauen, viele sind alleinstehende Mütter, die sich zusammengetan haben, um andere Frauen zu beraten, etwa, wie sie zwischen Sozialamt und Jobsuche zurechtkommen sollen. Heute würden sich die Frauen in Katrin Seybolds Film wohl leichter tun, einen Kita-Platz zu finden. Aber auf Sozialhilfe wären viele von ihnen immer noch angewiesen.

"Fraueninitiative Scharnhorst" hat in die diesjährige Retrospektive der Berliner Filmfestspiele gefunden: "Selbstbestimmt. Perspektiven von Frauen". Es waren etwa 50 Filme zu sehen, die zwischen 1968 und 1998 entstanden sind, im Osten und im Westen Deutschlands.

Es wird zwar eher selten so betrachtet, aber eigentlich sind das Kino und die zweite Frauenbewegung, die im Zentrum dieser Retrospektive steht, sowieso ganz eng verbunden: Als ihr Anbeginn gilt der Tomatenwurf vom 23. September 1968, und die Tomaten flogen, weil die Männer bei der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) nicht über eine Rede der Studentin Helke Sander diskutieren wollten, die kritisiert hatte, dass das Politische und das Private für die männlichen Genossen streng getrennt blieb - sodass sie zu Hause den revolutionären Geist nicht leben mussten, den sie draußen predigten. Helke Sanders Film "Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers" (1978) thematisiert das dann, da spielt sie selbst eine Berliner Fotografin mit Kind, die versucht, mit ihren Aufgaben zu jonglieren. Sie selbst nannte den Film dann "einen in Maßen komischen Beitrag zu der Frage, warum aus Frauen selten was wird". So heißt dann auch ein Kapitel im Buch zur Retrospektive ("Selbstbestimmt", herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother, erschienen im Verlag Bertz + Fischer). Braucht es eine solche Retro, wie sie die Deutsche Kinemathek zusammengestellt hat? Ja. Denn in den zwei Versionen Deutschlands, die nebeneinanderher lebten und filmten, waren Frauen hinter der Kamera der Sonderfall. Im Westen begannen Helke Sander oder Helma Sanders-Brahms, deren "Unter dem Pflaster ist der Strand" von 1975 auch Teil von "Selbstbestimmt"ist, Filme zu machen, bald nachdem eine Gruppe von Männern Papas Kino für tot erklärt hatte; aber der Neue Deutsche Film war und blieb dennoch in weiten Teilen Männersache. Im Osten brachte es das volkseigene Filmunternehmen Defa es auf mehr als 60 Regisseurinnen bis zum Ende der DDR, das klingt schon eindrucksvoller - aber eine zentrale Rolle spielten ihre Filme dann auch nicht. Es ist weit über den Endpunkt dieser Retrospektive hinaus, die bis 1998 reicht, dabei geblieben, dass Filmemacherinnen es deutlich schwerer hatten, ihre Projekte auch nur durchzubringen. So kam es dazu, dass die Initiative "ProQuote Regie" gegründet und aufgeschlüsselt wurde, wie groß der Graben zwischen den Geschlechtern ist bei der Vergabe von Förderungen und Aufträgen.

Man kann natürlich behaupten, dass es in einer idealen Welt keinen Unterschied machen sollte, ob ein Film von einer Frau gedreht wurde oder von einem Mann; in der Welt, in der wir leben, haben aber Männer definitiv einen männlichen Blick gepflegt über 123 Jahre Filmgeschichte hinweg, und der richtete sich nur selten auf Themen wie Abtreibung oder die Probleme von Alleinerziehenden; er richtete sich oft auf Dekolletés, aber nie auf die psychischen Folgen von Brustkrebs.

Starkes Kino von Regisseurinnen in der DDR: In Evelyn Schmidts „Das Fahrrad“ (1982) geht es um den Kampf alleinerziehender Mütter im Sozialismus. (Foto: Deutsche Kinemathek)

In der "Selbstbestimmt"-Reihe auf der Berlinale sieht man tatsächlich sich ähnelnde Perspektiven, auf die Doppelbelastung der Frauen, auf die Grenzen, die den meisten Heldinnen dieser Filme gesetzt sind, wenn sie sich nach außen bewegen, oder eben auf das Innenleben in den Familien. Manche dieser Filme sind wunderbare, ganz selten gezeigte Fundstücke, etwa der Kurzfilm "Der Fater" von Christine Noll Brinckmann, in dem sie, ganz ohne Ton, alte Aufnahmen ihres Vaters aus den Dreißigern montiert, bis sie die Geschichten zeigen, die er ihr nicht erzählt hat.

Helke Sanders Forderung nach der Politisierung des Privatlebens prägte vor allem die erste Hälfte der drei Jahrzehnte, die hier nachzeichnet werden. Die alleinerziehenden Mütter begegnen einem immer wieder, die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, der verletzte Rückzug ins Privatleben als Kokon, der vor der Welt da draußen schützen soll. In Evelyn Schmidts "Das Fahrrad" (1982) schlägt sich Susanne allein mit ihrer kleinen Tochter durch, und auch in der DDR war es, sieht man dort, eben nicht so einfach, einen Job zu finden, der darauf Rücksicht nimmt. Susanne würde liebend gern die gängige Vorstellung von einer Familie erfüllen - aber sie will halt nicht nur eine Beziehung, sie verlangt nach einer, in der sie glücklich ist.

Das Politische im Privaten war im sozialistischen Realismus der DDR selbstverständlicher - dafür gab es eine Zensur, die einen Film wie Margarethe von Trottas "Die bleierne Zeit" (1981) nie durchgelassen hätte. Auch da findet sich das Politische im Privaten: Es geht um die Terrororganisation RAF und den Graben, der friedlichen Protest von Gewaltrechtfertigung trennt, dargestellt an einer Schwesterngeschichte. Marianne (Barbara Sukowa) und Juliane (Jutta Lampe) sind angelehnt an Gudrun Ensslin und ihre Schwester.

Es gibt wunderbare Filme von Frauen - aber keinen Kanon

Es sind noch ein paar andere bekannte Arbeiten dabei, Doris Dörries "Im Inneren des Wals" (1985), "Zur Sache, Schätzchen" (1968) von May Spils, oder Jeanine Meerapfels "Malou" (1981). Aber die meisten dieser Filme gehören, wenn es ums deutsche Kino geht, nicht dazu. Diese Retrospektive zeigt zunächst einmal, dass es für Filme von Frauen keinen Kanon gibt. Nun wird das gesamte Kino von vor der Jahrtausendwende seit einer Weile stiefmütterlich behandelt. Die Filme, die "Selbstbestimmt" zeigt - der Titel trifft vielleicht nicht auf alle, aber doch auf die meisten zu - sind aber selbst in schnelllebigen Zeiten Raritäten.

In Iris Gusners Film „Die Taube auf dem Dach“ (1973) haben Frauen auf dem Bau das Sagen. (Foto: Deutsche Kinemathek)

Ula Stöckls "Neun Leben hat die Katze" (1968), der mit einer herrlichen Fahrt durchs München von 1967 beginnt, gilt als der erste feministische Film überhaupt, Stöckls verwobene Münchner Geschichten von Frauen auf der Suche nach ihrer inneren Mitte haben ihren Platz in der Filmgeschichte erobert. Da ging es Iris Gusner in der DDR anders: Sie drehte 1973 ihren rotzfrechen Spielfilm "Die Taube auf dem Dach" - aber der Film wurde noch vor der ersten Aufführung verboten und sogar physisch zerstört. Die Kopie, die die Deutsche Kinemathek bei der Retrospektive zeigt, ist eine Schwarzweiß-Rekonstruktion, die aus einer übrig gebliebenen farbigen Arbeitskopie hergestellt wurde.

Gusners Figuren waren einfach zu echt für die Zensur: Linda (Heidemarie Wenzel) leitet eine Baustelle, und zwei der Männer, die für sie arbeiten, erobern zumindest temporär ihr Herz. Der jüngere von beiden ist ein absolut arbeitsscheues Subjekt, der Student Daniel, der auf Sandschippen keinen Bock hat und sich lieber von der Kranführerin beibringen lässt, wie man die Hebel bedient. Das ist das Herrliche an "Die Taube auf dem Dach": Mit welcher Natürlichkeit Linda und diese Kranführerin hier das Sagen haben, in einer sonst männlichen Truppe, die auch ihr halbes Privatleben zusammen verbringt, einzelne Zimmer einer Wohnung bewohnt, zusammen feiert. Der ältere ihrer beiden Liebhaber wird dann irgendwann doch eifersüchtig, weil sich Linda mehr für Plattenlieferungen interessiert als für seine Bedürfnisse. "Ich baue!", schleudert sie ihm entgegen.

"Die Taube auf dem Dach" strolcht in Episoden durch dies Beziehungsgeflecht, Linda lässt sich vom älteren Liebhaber den Hof machen und vom jüngeren bekochen, der welpenhaft unbeholfen zu ihr aufblickt und droht, sich vom Kran zu stürzen, als klar ist, dass er nicht mit ihren Baustellen konkurrieren kann. Was die Zensur der DDR damals abschreckte, war vielleicht der vertrackte weibliche Blick: die zärtliche Milde, mit der sie diese beiden Männer betrachtet, in all ihrer Schwäche.

© SZ vom 16.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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