Berlinale-Film: "Ein Artikel zu viel":Im Auge der Macht

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Anna Politkowskajas Berichte über politische Willkür erzürnten die russische Elite. Nun versucht ein neuer Dokumentarfilm, den Mord an der Journalistin aufzuklären.

Elmar Jung

Der Mann steht unter Strom. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen zwar, aber man sieht deutlich, wie ernst ihm die Sache ist. Garri Kasparow ist von kleinem Wuchs, und man würde ihn in dem Gedränge schnell aus den Augen verlieren, würde nicht eine Menschentraube seine Position verraten. Seitdem er sich dem Kampf gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin verschrieben hat, ist Kasparow im Westen gefragt, wie er es als Schachweltmeister nie war.

"Ja, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe", sagte Politkowskaja 2004. Jetzt ergründet ein Film die Ursachen ihres Todes. (Foto: Foto: MDR)

Auch hier an diesem Sonntag im Foyer des Berliner Ensembles wollen alle einen Blick auf denjenigen werfen, der sich so furchtlos Putins Machtapparat entgegenstellt und dabei sein Leben riskiert. Manche haben Angst, Kasparow könnte es ähnlich ergehen wie der russischen Journalistin und unbeugsamen Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja, die am 7. Oktober 2006 in ihrem Moskauer Wohnhaus erschossen wurde. Ein Mord, der noch viele Fragen offen lässt und vor allem in Europa für Empörung sorgte.

Regisseur Eric Bergkraut hat sich einen heiklen Stoff für seinen Dokumentarfilm "Ein Artikel zu viel" ausgesucht, der in der kommenden Woche in 3sat und - in einer 45-minütigen Kurzfassung - in der ARD gezeigt wird und in diesen Tagen schon auf der Berlinale läuft. Warum wurde Anna Politkowskaja ermordet? Lag es an ihrem Engagement gegen Russlands Krieg in Tschetschenien? Wer sind die Täter? Befriedigende Antworten auf diese Fragen kann auch Bergkrauts ungewöhnliches Portrait nicht bieten.

Die Ära Putin

Aber das soll es wohl auch gar nicht. In den Gesichtern von Politkowskajas Verwandtschaft, die zur Premiere des Fernsehfilms an diesem Sonntagabend nach Berlin gekommen ist, glaubt man jedenfalls unendliche Dankbarkeit zu erkennen für Bergkrauts Bemühen, der Arbeit Anna Politkowskajas jene Anerkennung zu geben, die ihr in Russland Zeit ihres Lebens verwehrt worden war.

"Ja, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe." Mit diesem Satz Politkowskajas vom März 2004 beginnt der Film, und er zeigt auch die Stoßrichtung an, in die es während der kommenden 83 Minuten gehen soll. Die unerschrockene Journalistin, die für die Kreml-kritische Tageszeitung Nowaja Gaseta arbeitete, muss lange geahnt haben, dass sie der russische Geheimdienst auf der Liste haben könnte.

Denn hinter dem Attentat - und daran lässt zumindest Bergkrauts Film keinen Zweifel - könnte der Kreml, ja, Putin selbst, stecken. Das Motiv liege auf der Hand: Politkowskajas Artikel über Folter, Willkür in Tschetschenien, über die ungerechte Justiz, Korruption und gewissenlose Bürokraten sollen Russlands Mächtigen ein Dorn im Auge gewesen sein. "Ein Artikel zu viel" ist nicht nur persönliche Spurensuche, sondern auch ein politischer Film, der eine niederschmetternde Menschenrechtsbilanz der Ära Putin zieht.

Besessene Suche nach Wahrheit

Die anklagende Tonfall, gepaart mit Bildern von verstümmelten Soldaten aus dem Tschetschenienkrieg, lässt den Film zuweilen etwas krude erscheinen. Und es wäre wohl bei einem Aufguss altbekannter (Verschwörungs-)Theorien geblieben, hätte Bergkraut sich nicht auch im engsten Familienkreis Politkowskajas umgehört. Gespräche mit Sohn Illya, Tochter Vera, aber auch mit ihrem Ex-Mann Alexander Politkowski vermitteln ein Bild von Politkowskaja, das weit über das der unbestechlichen Journalistin hinausgeht.

Der Film zeigt dann eine sehr ernsthafte Frau, die mit ihrer fast schon besessenen Suche nach der Wahrheit selbst in der eigenen Familie teilweise auf Unverständnis stößt und dabei auch das Scheitern der eigenen Ehe in Kauf nimmt. Lieber sei er nachts noch in die nächste Kneipe gegangen, als seine Frau arbeitend und in Akten vertieft vorzufinden, erzählt Ex-Mann Alexander. "Meiner Familie war das zu viel, ganz klar", sagte Politkowskaja selbst. Sie hat ihrer Leidenschaft viel geopfert, ehe sie selbst zum Opfer wurde. Es ist vielleicht das größte Verdienst Bergkrauts, dies deutlich gemacht zu haben.

Darauf hinzuweisen, dass der Befehl zum Mord an Anna Politkowskaja von ganz oben kommen könnte, wäre gar nicht notwendig gewesen. Das Publikum im Berliner Ensemble glaubt ohnehin daran. Als ein Ausschnitt zeigt, wie Präsident Wladimir Putin den Mord für gelöst erklärt und die Täter irgendwo "außerhalb der russischen Föderation" verortet, geht ein süffisantes Gelächter durch den Saal. Nur Garri Kasparow verzieht keine Miene. Die Sache ist einfach zu ernst.

"Ein Artikel zu viel", 20. Februar, ARD, 23.30 Uhr und 3sat, 20.15 Uhr.

© SZ vom 12.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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