Berlin-Roman "Gehwegschäden":Latte-Macchiato-Heuschrecken-Blues

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In Helmut Kuhns Prekariats-Roman "Gehwegschäden" taumelt ein mittelschwer ramponierter Journalist durch Berlin. Dabei kommt er an zahllosen bekannten Hauptstadtzeitgeistern wie dem Latte-Macchiato-Trinker vorbei, bleibt aber in seiner Beobachterrolle stecken.

Jutta Person

Berlin, Torstraße/Ecke Prenzlauer Allee: Hier steht ein elegant-wuchtiges Gebäude mit einer doppelt geschwungenen Bauhaus-Fassade, in dem heute das "SoHo House" residiert, ein exklusives Club-Hotel "für aufgeschlossene Menschen aus der nationalen und internationalen Kreativszene", wie es auf der Webseite heißt. In den zwanziger Jahren war hier das jüdische Kaufhaus Jonass beheimatet, im Dritten Reich wurde es zum Hauptquartier der Hitlerjugend, zu DDR-Zeiten diente es zunächst als SED-Zentrale, dann zog das Institut für Marxismus-Leninismus ein. Baldur von Schirach, Wilhelm Pieck und jetzt die Kreativszene, das ist ein faszinierender Fund für einen Schriftsteller.

Straßen-Cafés in Prenzlauer Berg: Ein beliebter Treffpunkt für "Latte-Macchiato-Trinker", die wie viele andere Hauptstadtzeitgeister den Roman "Gehwegschäden" bevölkern. (Foto: Getty Images)

Der Schriftsteller und Journalist Helmut Kuhn hat dieses Gebäude zu einem wichtigen Nebenschauplatz seines Romans "Gehwegschäden" gemacht, in dem ein mittelschwer ramponierter Journalist namens Thomas Frantz durch Berlin taumelt.

Solche Berlinstreuner - die meisten mit mehr oder minder deutlichen Anspielungen an Döblins Franz Biberkopf - stehen literarisch schon eine Weile hoch im Kurs, von Ulrich Peltzers "Teil der Lösung" bis zu Albrecht Selges Roman "wach". Dabei rücken nicht nur faszinierende Funde wie das Jonass-Kaufhaus in den Fokus, sondern auch die Berliner Taumelgestalten selbst.

Seltsames Hobby: Schachboxen

"Gehwegschäden" ist ein Panorama leidlich bekannter Hauptstadtzeitgeister: der dummschwätzende Latte-Macchiato-Trinker, die alten Prenzlauerberg-Eltern, der authentische Sozialarbeiter, die sexy Doktorandin, der Computer-Schwabe, der skrupellose Marketingheini - und eben Thomas Frantz, ein melancholischer Zeilenschinder, der die wachsende soziale Ungleichheit beobachtet, über Floskeln zum Prekariat aber kaum hinauskommt. Dieser Thomas Frantz bietet der Jüdischen Allgemeinen eine Reportage über das Gebäude an, das in der erzählten Zeit des Romans von den britischen Käufern und Berliner Architekten brutal saniert wird.

Wenn er nicht Artikel für stetig sinkendes Zeilenhonorar schreibt, trinkt der Freelancer mit seinem schwäbischen Nerd-Freund oder verfolgt den Marsch der Prekarianer am Alexanderplatz. Er testet ein Wettbüro in Neukölln, dann wieder sieht man ihn an einer Guerilla-Kunst-Aktion am Rosenthaler Platz teilnehmen.

Passend zur Hauptfigur, die sich durch die Berlinkulissen treiben lässt, mäandert auch der Roman von Episode zu Episode - und montiert dabei in Döblin-Manier Werbeslogans ("Geiz ist geil") oder Stundenlöhne ("in der Küche stehen Chinesen, zwei Euro zehn die Stunde") in den Assoziationsstrom. Einzig ein seltsames Hobby zieht sich konsequent durchs prekäre Dasein: Schachboxen.

Bei dieser Sportart wird abwechselnd geboxt und Schach gespielt, das soll die Beteiligten hart machen. Boxen ist, seit Brecht und seit Döblins boxendem Biberkopf, Teil einer Anti-Schnörkel-Haltung, die sich auch stilistisch durchschlägt: "Schachboxen", heißt es lakonisch, ist eine "Strategie. Nicht im Sinne von Clausewitz. Im Sinne von Tyson". Auch der Ich-Erzähler, der den gebeutelten Thomas Frantz teilnehmend beobachtet, ist ein Jünger dieser Lass-das-Leben-selbst-sprechen-Ideologie.

Irgendwo zwischen Schönhauser Allee und Hermannstraße

Zwei Sätze kennzeichnen den Erzählgestus am treffendsten und laufen in Dauerschleife: "So ist das" und "So geht das". Thomas Frantz ist ein ewiger Beobachter, ein bisschen larmoyant, ein bisschen subversiv, ein bisschen gegen die Mächtigen, ein bisschen gegen Heuschrecken. Aber eben einer, der immer schön in Deckung bleibt und seine untertanenhaften Ressentiments mit der Chronistenrolle überspielt.

"So geht das" - das ist die klassische Angsterektion des Stammtischlers, der durchschaut hat, was die da oben so treiben, sein Checkertum aber nur in devoter Strammheit äußern kann. Ähnlich beugt sich auch Thomas Frantz vor der schieren Macht des Faktischen.

Dieses Knechtische im Wesen der Hauptfigur hat der Ich-Erzähler gut getroffen, und doch ermüdet "Gehwegschäden" bei aller Beobachtungsklugheit zunehmend. Das liegt zum einen an den Berlinklischees, die seit Jahren in den Zeitgeist-Ressorts der Republik rauf- und runtergenudelt werden: Sich immer noch über Latte Macchiato zu mokieren und auf die Heuschrecken-Empörung der Leserschaft zu spekulieren, ist literarisch gesehen ziemlich unergiebig.

Zum anderen hat der Roman das gleiche Problem wie die Hauptfigur und der Ich-Erzähler: Er setzt auf einen Berlinrealismus, der irgendwo zwischen Schönhauser Allee und Hermannstraße hängenbleibt. Kleine Hinweisschilder warnen überall vor Gehwegschäden, die nicht mehr repariert werden. Das ist bitter. Und dabei könnte doch, mit ein wenig fiktionalem Schwung, grade unterm Pflaster der Strand liegen.

HELMUT KUHN: Gehwegschäden. Roman. Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt/Main 2012. 444 S., 22,90 Euro.

© SZ vom 23.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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