Antonio Scurati: "M. Der Mann der Vorsehung":Das Leiden des mächtigen Mannes

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Einen großen Teil des italienischen Volkes hatte er auf seiner Seite: Benito Mussolini im Jahr 1936. (Foto: AP)

Wahrhaftigkeit statt Wahrheit: Antonio Scuratis monumentale Romanbiografie von Benito Mussolini beansprucht eine höhere Objektivität. Jetzt ist der zweite Band auf Deutsch erschienen.

Von Thomas Steinfeld

Im Unterschied zu den meisten führenden Nationalsozialisten, zu Adolf Hitler vor allem, war der italienische Faschistenführer Benito Mussolini ein Mann von kräftiger Statur. Er wusste mit dem Vorschlaghammer umzugehen, er war Reiter und Autofahrer, und ein vielbeschäftigter Liebhaber war er auch. Manchen Literaten galt er als Literat, er konnte vor Künstlern beinahe als Künstler auftreten, und wenn er, aus der Nähe und genau betrachtet, zwar nicht ganz die heroische Statur besaß, die viele seiner Bildnisse zeigen, so fiel der Unterschied zwischen dem Privatmenschen und der öffentlichen Person doch nicht allzu groß aus.

Mussolini war eine Gestalt, der man zugetraut hätte, dass sie in die Tradition der kleinen, späten Caesaren hätte eintreten können. Aus ihm hätte ein Volkstribun wie Cola di Rienzo oder Camillo Benso von Cavour werden können, und vielleicht war er sogar einer: Einen großen Teil des italienischen Volkes jedenfalls hatte er während der längeren Zeit seiner zwanzig Jahre währenden Herrschaft auf seiner Seite.

Der zweite Band des biografischen Romans, den der Mailänder Schriftsteller Antonio Scurati dem "Duce" widmet, beginnt mit Bauchschmerzen. Mussolini muss sich blutig übergeben, der Körper krümmt sich in großer Pein, vom Menschen ist nichts übrig als ein wunder Verdauungsapparat. "Ringsum tanzt das Zimmer einen Ringelreihen aus offenen Magengeschwüren." Mussolini kommt darüber hinweg.

Manche Teile des Buches halten sich so eng an die historischen Dokumente, dass sie als Geschichtsschreibung durchgehen könnten

Dass das Buch mehr Roman als Biografie ist, erweist sich in solchen Passagen. Scurati inszeniert das Leiden des mächtigen Mannes, er sucht in der Geschichte des Leibes nach einer Auskunft über den Menschen, die der Lebenslauf nicht hergibt. An solchen Stellen wird der Stil immer wieder mimetisch. Zum Schmuck der Adjektive, der Wiederholungen und der langen, stark rhythmisierten Sätze neigt Scurati ohnehin. Zuweilen ist es, als imitiere er absichtlich die sprachlichen Girlanden D'Annunzios oder die donnernde Rhetorik Mussolinis.

Andere Teile des Buchs halten sich so eng an die historischen Dokumente, dass sie als Geschichtsschreibung durchgehen könnten. Ob man durch diese Mischung des Faktischen mit dem Ausgesponnenen mehr und Besseres über Mussolini und den italienischen Faschismus erfährt als in den Biografien von R. J. B. Bosworth, Wolfgang Schieder oder Hans Woller, muss nicht entschieden werden: Man liest etwas anderes.

Der erste Band dieses auf drei Bücher angelegten Romans setzt mit "Gründung der Kampfbünde" im März 1919 ein. Der große Krieg war gerade erst zu Ende gegangen und Italien allseits von Gewalt gezeichnet. Das Buch endet mit der Ermordung Giacomo Matteottis, des Generalsekretärs der sozialistischen Partei, einem Ereignis, das die Herrschaft der Faschisten über Italien ins Wanken brachte. Der zweite Band nun beginnt, indem Scurati erzählt, wie Mussolini das Land einer Diktatur unterwirft, trotz aller Bauchschmerzen. Die liberale Opposition, "Aventinianer" genannt, übernimmt dabei die Rolle, die den alten Caesaren gegenüber die republikanischen Aristokraten innehatten.

Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 636 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

Das Buch endet mit den Feiern zum zehnten Jahrestag der "faschistischen Revolution" im Oktober 1932 und mit dem Blick über eine "ausgeweidete", weil von neuen, riesenhaften Gebäuden geprägte Stadt, in der ein faschistisches Zeitalter angebrochen sein soll und die Menschen Jo-Jo spielen. Dazwischen, im Februar 1929, wird das Konkordat zwischen der katholischen Kirche und dem italienischen Staat geschlossen: "Die Glocken schallen unaufhörlich, der Regen rauscht hernieder, in Rom ist es zur Mittagszeit fast dunkel, und vor der Lateranbasilika verliert sich der vom gefühlsmächtigen Gesang zersauste Scheitel zwischen irdischer und himmlischer Herrlichkeit im trüben Winterlicht."

Seinem panoramatischen, aber streng der Chronologie verpflichteten literarischen Verfahren bleibt Scurati auch im zweiten Band treu, selbstverständlich. Die Geschichte erscheint aufgelöst in kurze Szenen, zu denen jeweils einige originale Zitate gestellt werden. Man folgt dem Werdegang Mussolinis in Etappen, Woche für Woche, manchmal Tag für Tag. Der Effekt ist ein dreifacher: Zunächst einmal bleibt das Buch lesbar, trotz seines Umfangs und trotz der Menge an Stoff, die bewältigt werden muss. Sodann erscheint das Leben des "Duce" aufgelöst in lauter Stationen, an denen er auf wechselnde Umstände und Gelegenheiten reagieren muss. Erst über sie wird er zu dem, was er dann verkörpert.

Und schließlich gestattet die Technik, zwischen dem Menschlichen und dem Politischen zu wechseln, wobei das kurze Format eine Intensität des Erzählens fördert, deren Voraussetzung gleichsam das Luftholen zwischen den einzelnen Abschnitten ist. Der Autor ist in diesen Szenen stets gegenwärtig, nicht nur als Regisseur und Dramaturg eines weiten Panoramas, sondern auch als Kommentator. Manchmal verliert er sich dabei in großzügigen Verallgemeinerungen: "Nur selten halten die Menschen dieses enthemmten Jahrhunderts inne und denken über das unausweichliche Ende nach." Aber so etwas passiert ihm zum Glück nicht allzu oft.

Scurati verwandelt Mussolini nicht in einen Dämon, um dann selbst am Dämonischen teilzuhaben

Antonio Scurati beansprucht für seinen Roman einen Grad von Objektivität, der höher sein soll, als es in seinen Augen einer wissenschaftlichen Biografie zukäme. Und gewiss: die Frage, wie das, was war, sich tatsächlich abspielte, kann auch die Wissenschaft nicht beantworten. Den Unterschied versucht der Schriftsteller nicht mit mehr Wahrheit (auf diesem Gebiet gibt es nur noch wenig zu gewinnen), sondern mit mehr Wahrhaftigkeit aufzuheben. Weil er dabei diskret bleibt und nicht den Versuch macht, Mussolini in einen Dämon zu verwandeln, um dann selber - wie es der Historiker Ian Kershaw in seiner Hitler-Biografie tat - am Dämonischen teilzuhaben, geht das Verfahren auf.

Der Leser lernt, wie die Dinge ineinandergreifen, auf der einen Seite die innere Motivation des Dikators, auf der anderen eine Zeit des historischen Umbruchs, in der sich Menschen als tatkräftig und erfolgreich erweisen, von denen fünf Jahre vor ihrer jeweiligen Machtergreifung kaum jemand gehört hatte. So entsteht mehr als nur die Lebensgeschichte eines Mannes, bei dem der Wille zur Macht kaum von seinem Opportunismus zu trennen ist: Antonio Scurati schreibt zugleich die Geschichte einer Bewegung.

Der Autor hält, so sagt er zumindest, sein Werk für eine aufklärerische, gegen den Faschismus gerichtete Schrift. Er täuscht sich mit diesem Anspruch über sich selbst, zum eigenen Vorteil. Volkspädagogische Absichten sind ihm fremd. Stattdessen erhält der Leser eine detaillierte Vorstellung davon, was Faschismus ist: die Ideologie eines Staates, der von seinen Bürgern verlangt, ihre persönlichen Belange einer Allgemeinheit zu unterwerfen, die sich als die innen- und außenpolitische Macht ebendieses Staates definiert. Faschismus ist eine Radikalisierung der Idee vom "nationalen Interesse" und als solche der Demokratie näher, als es deren Verteidiger manchmal wahrhaben wollen. Wie dieses Prinzip im Fall Benito Mussolinis funktioniert, im Alltag, in kleinen und großen politischen Entscheidungen, in den jeweiligen Funktionsträgern - davon handelt dieses Werk, und dafür braucht es tatsächlich drei dicke Bände.

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