Für die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen Lyrik und Lyrics fließend sind, also zwischen Dichtung und Songtexten, hätte es keinen Literaturnobelpreis für Bob Dylan gebraucht. Trugen doch schon die antiken Griechen ihre lyrischen Verse zum Klang einer Leier vor, und zwar als Bestandteile von kultisch-religiösen Ritualen, die heutigen Popkonzerten gar nicht so unähnlich sind. Trotzdem nimmt man, das stimmt schon, nur selten Songwriter als Literaten wahr. Außer wenn sie sich wie etwa Leonard Cohen, Nick Cave oder Kate Tempest parallel zum Musik- auch auf dem Literaturmarkt bewegen. Das heißt, wenn sie eigenständige Gedichtbände oder Romane publizieren und damit Literaturkritik und Publikum signalisieren, dass sie es mit ihrem Literatentum auch ernst meinen.
Eine, die das in Deutschland tut und dafür bei Literatur- und Popkritik verdiente Anerkennung findet, ist Lydia Daher. Die gebürtige Berlinerin, die nach den Zwischenstationen Köln und Augsburg mittlerweile wieder in der deutschen Hauptstadt lebt, hat in den vergangenen Jahren mehrere Lyrikbände und Alben veröffentlicht. Ihr dritter Longplayer "Wir hatten Großes vor" ist am 27. Oktober beim Münchner Label Trikont erschienen, und er zeigt, dass man Großes am besten dadurch schafft, indem man im richtigen Moment loslässt. Das soll heißen: Lydia Daher hat die Improvisation für sich entdeckt. Sie hat bereits vorhandene Aufnahmen, weil sie sich damit nicht mehr wohl fühlte, noch einmal komplett umgeworfen und hat als Texterin so wie ihre Musiker spontan im Studio improvisiert.
Das Ergebnis ist eine größere Freiheit und gleichzeitig eine wunderbare Symbiose zwischen Text und Musik, die etwa so aussehen kann, dass in einer Liedzeile "alles um uns rum auseinanderfällt" und dabei auch das zugehörige musikalische Arrangement plötzlich zerbröselt. Oder dass Daher von einem "harten Schnitt" singt und die Musiker mit eben einem solchen musikalisch reagieren. So etwas funktioniert nur mit richtig guten Musikern, und die hatte Daher mit Daniel Schröteler, Philipp Gropper, Olaf Rupp, Tobias von Glenck und Mouloud Mammeri zur Seite. Trotz der gemeinsamen Neigung zum Experiment ist "Wir hatten Großes vor" ein eingängiges Popalbum geworden: mit poetischen Texten "über die Welt, die eigene Lage", über die Angst, sich beim Retten der Welt zu ruinieren, oder die Hoffnung, auch beim gemeinsamen Stillstehen voranzukommen.
Vom Versuch, gemeinsam, das heißt Generationen, Genres und Länder übergreifend voranzukommen, ist auch das Schamrock-Festival der Dichterinnen geprägt. Das findet eigentlich als Biennale in München und in Wien statt, ist in diesem Jahr aber in Form einer Spezial-Ausgabe in Bamberg zu Gast. Insgesamt 16 Lyrikerinnen und Künstlerinnen aus fünf Ländern sind von diesem Montag an bis Mittwoch dort vertreten, und darunter ist auch Lydia Daher, die am Dienstagabend um 19 Uhr in der Alten Seilerei auftritt. Sie tut das leider nicht mit ihrer Band, ist dafür aber bei einem Konzert-, Performance- und Lese-Abend mit Augusta und Kalle Aldis Laar, Abbie Conant und Ulrike Almut Sandig zu erleben. Das heißt, auch hier sind die Grenzen zwischen Dichtung und Musik fließend.
Dass Schamrock einen Abstecher nach Bamberg macht, das hat vor allem mit der dort lebenden Lyrikerin Nora Gomringer zu tun. Diese leitet seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg, war 2014 beim Schamrock-Festival in München und Wien zu Gast und hatte schon damals gemeinsam mit Festival-Leiterin Augusta Laar die Idee, in Zukunft institutionell enger zusammenzuarbeiten. Die Villa Concordia ist deshalb auch der zentrale Anlaufpunkt, außerdem sind unter den Teilnehmerinnen ehemalige und aktuelle Stipendiatinnen der Villa.
Ob das "Spezial" in Bamberg eine einmalige Sache bleiben wird, kann Leiterin Augusta Laar noch nicht sagen, dafür sind für die nächsten Jahre Schamrock-Gastspiele in Riga und Sydney geplant. Außerdem wird es 2018 weiteren musikalischen Austausch mit Berlin geben, denn dann ist das Berliner Elektronik-Musik-Festival "Heroines of Sound" mit einem Sonderprogramm bei Schamrock in München vertreten.
Schamrock Festival Spezial 2017 , Bamberg, Mo- Mi, 6.-8.Nov., Villa Concordia (Concordiastr. 28) und andere Orte, www.schamrock.org