Ballett:Alles auf Anfang

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Spätestens seit "Me too" ist klar, dass sich in der Ballettwelt vieles ändern muss. Während die Ballettakademie München vormacht, wie man ein zeitgemäßes Lehrkonzept erstellt, verstolpert die Berliner Ballettschule auf peinliche Weise den Neustart.

Von Dorion Weickmann

Saal 334 des Berliner Arbeitsgerichts ist die Bühne, auf der das Drama um die Zustände an der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik neuerdings seine Runden dreht. Hier hat sich vor zwei Monaten der geschasste Schulleiter Ralf Stabel erfolgreich gegen seine Kündigung zur Wehr gesetzt. Nun war sein Kollege Gregor Seyffert an der Reihe: Professor, Kammertänzer, Ex-Ballerino mit imposanter Karriere und zuständig für das künstlerische Profil des Instituts.

Die Liaison, in die Seyffert 2012 eine Schülerin verstrickte, war definitiv inkompatibel mit seiner Führungsrolle. Wenigstens in dieser Frage schienen sich die Anwälte beider Seiten halbwegs einig zu sein. Seyfferts Entlassung durch die Senatsverwaltung für Bildung ist dennoch unwirksam. So entschied die Kammer - in Abwesenheit des Klägers. Ausschlaggebend dafür war eine Formalie: Die Behörde hat nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe mehrere Monate und damit gesetzliche Fristen verstreichen lassen, bevor sie die Kündigung aussprach. Die zahlreichen, von eigens einberufenen Expertenkommissionen festgestellten Missstände an der Schule fielen dabei nicht ins Gewicht. Für das nach- wie fahrlässige Vorgehen der Verwaltung im Falle Seyffert bezahlt die Schule einen bitteren Preis. Sie verstolpert so den notwendigen Neustart.

Ein solcher tut nicht nur in Berlin not. Dass die Ballettwelt ihre Kunst diverser und demokratischer ausrichten muss, hat sich inzwischen nicht nur an der Peripherie herumgesprochen. Die längst überfällig Revolution kam erst mit #Metoo, wenig später wurden auch weiße Privilegien infrage gestellt. Im September hat die Pariser Ballettelite ein antirassistisches Manifest verfasst, das den neuen Generaldirektor Alexander Neef zum Handeln zwang. Er lässt derzeit unter anderem prüfen, inwiefern die stereotype Optik à la "Schwanensee" noch zeitgemäß ist.

Auch im Ausbildungsbereich setzt sachte ein Umdenken und Umsteuern ein. Die Ballettakademie an der Hochschule für Musik und Theater München hat dabei eine Vorreiterrolle übernommen. Sie arbeitet seit Kurzem mit einem Lehrkonzept, das in jeder Hinsicht Standards setzt: Auf 23 Seiten wird der Bogen von der "streng autoritären Vorgeschichte" über "unethische Verhaltensweisen in der Tanzpädagogik" - sprich: Bodyshaming und Diskriminierung - hin zu einem positiven Leitbild gespannt: Künftige Tänzer sollen ganzheitlich, eigenverantwortlich und selbstreflek-tiert lernen statt Drill, Dauerkritik und Demütigung ertragen zu müssen. Am Ende geht es um "Persönlichkeitsentwicklung" statt Uniformität, um eigenwillige Kunst statt An- und Einpassung, um schöpferisches Talent statt willfähriger Nachahmung. Darauf zielt der Verhaltenskodex, der für den Lehrkörper verpflichtend ist.

Reformen dieser Art sind überfällig, auch in Berlin. Der Erneuerungsprozess, den die Staatliche Ballettschule vor sich hat, bedeutet: Abschied von pädagogischer Willkür und Paternalismus, Verständigung auf Augenhöhe, hin zu einer Kultur des Respekts. Dafür muss allerdings zuerst das juristische Drama im Berliner Arbeitsgericht ein Ende haben. Der letzte Vorhang lässt sich eigentlich diskret inszenieren: in Form eines Vergleichs. Die Streitparteien müssten sich nur endlich darauf verständigen.

© SZ vom 30.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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