Autor Christian Semler ist tot:Einer, der sich umsah

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Er gehörte der heute längst entschlafenen Münchner Boheme an und agitierte an der Seite von Rudi Dutschke. Vor allem aber war Christian Semler gebildet und sachkundig wie keiner. Bei seiner Zeitung "taz" wurde er verehrt wie ein lieber Opa. Nun ist der Autor und Unruhegeist mit 74 Jahren gestorben.

Von Willi Winkler

Er war einer der liebenswürdigsten Kollegen und dabei gebildet wie keiner von uns. Er schrieb mit der gleichen Kompetenz über Gustave Courbets berüchtigtes Gemälde "L'Origine du Monde" wie er über eine Etrusker-Ausstellung berichtete oder den Niedergang der Solidarnosc analysieren konnte. Als Sohn der Schauspielerin Ursula Herking und des CSU-Mitbegründers und zeitweiligen BMW-Aufsichtsrates Johannes Semler gehörte er, lange ehe es das vielbeschwatzte Achtundsechzig gab, zur heute längst entschlafenen Münchner Boheme, der sich vorübergehend stolz auch der jugendrote Hubert Burda zurechnete. Im Schatten des Siegestors schwieg die Politik der Wirtschaftswunderväter. Dafür wurde Dostojewski gelesen und zum grünen Neid des Verlegers Gerd Bucerius der russische Dichterfürst Jewgeni Jewtuschenko zum Vortrag gebeten.

Auch darüber schrieb Christian Semler: dass er zwar zur Erben-Generation gehörte, er selber aber nichts überliefert bekam, weil sein Vater als ordentlicher Lebemann alles verprasst hatte. Sein Sohn, der Rechtsreferendar, ging nach Berlin und machte endlich Politik, und zwar mehr, als die Geschichtsbücher hergeben.

In den letzten Jahrzehnten war er vornehmlich als Kolumnist der taz bekannt, und dafür erhielt er 2010 den Otto-Brenner-Preis. Sachkundig wie keiner beschäftigte er sich mit der Entwicklung in Osteuropa, mit dem Jugoslawienkrieg, mit dem Übergang Chinas vom maoistischen Kommunismus zur kommandobewirtschafteten Konsumgesellschaft von heute. Woher er so genau Bescheid wusste? Er war hingefahren und hatte sich umgesehen.

Lieber Opa und fernsehbekannter Revolutionär

In der taz wurde er verehrt wie ein lieber Opa, und tatsächlich hat er mindestens eine namentlich bekannte Redakteurin als Kleinkind auf den Knien gewiegt. Da war er aber noch kein Großvater, sondern fernsehbekannter Revolutionär, megafonte an der Seite von Rudi Dutschke, agitierte die zählbar bescheidenen Massen, forderte die Enteignung Springers und sah das kommunistische Reich vom Kreuzberg herab ganz in der Nähe liegen. In einem Gespräch, das der kaum weniger optimistische Hans Magnus Enzensberger im Sommer 1968 mit Rudi Dutschke, Christian Semler und Bernd Rabehl fürs Kursbuch führte, wurde Berlin vorsorglich schon befreit und als Räterepublik umgegründet. Glück kann manchmal auch heißen, dass aus solchen Utopien nichts wurde.

Nach dem Attentat auf Dutschke zerfiel die Studentenbewegung in viele kommunistische Fraktionen, die sich hemmungslos bekriegten. Dann folgte die finstre Phase der Professionalisierung. Mit Jürgen Horlemann gründete Semler die maoistische KPD, die sich scheinbescheiden als AO (wie Aufbauorganisation) tarnte.

Christian Semler ließ sich wie die anderen Genossen die Haare schneiden, trug einen Plastikanzug und wandte sich, immer noch am Megafon und ein kauderwelsches Flugblatt in der Hand, an die Werktätigen, die leider Besseres zu tun hatten als für eine arbeitsbienige Gesellschaft zu kämpfen. Nach allen Berichten bestand die Tätigkeit des Zentralkomitees dieser KPD vor allem darin, sich gegenseitig wegen Links- oder Rechtsabweichung auszuschließen und möglichst oft die Tarnnamen zu wechseln.

Jedes Leben ist, wenn es zu Ende ist, unvollendet. Doch fand der Unruhegeist Semler in der von ständigen Fraktionskämpfen zerrissenen taz endlich das Forum, in dem er seinen eigenen Dogmatismus loswerden und andere an seinem enzyklopädischen Wissen teilhaben lassen konnte. Wie er einmal sagte, hat ihn die Zeitung nicht wegen ihres entschlossenen Linkstums interessiert, sondern weil sie - selige Zeiten! - eine "Kritik der Mittelgebirge" veröffentlichte.

Sein großes, gesamtdeutsches Projekt, nämlich sich über die Mauer mit den Arbeitern in Ostberlin zu verbinden, um im Springer-Gebäude an der gleichen Mauer die Abflüsse zuzuspachteln, damit die dort produzierte Unflat endlich auch buchstäblich hochsteige, scheiterte an der Feigheit der Brüder im Osten.

Der verehrte Kollege Christian Semler ist in der Nacht zum Mittwoch im Alter von 74 Jahren gestorben.

© SZ vom 14.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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