Autobiografie:Am Todesstreifen

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Matthias Friedrich Muecke: Niemandsland. Erinnerungen an eine Kindheit. Kunstanstifter-Verlag für Illustration, Mannheim 2019. 208 Seiten, 24 Euro. (Foto: Verlag)

Im Grenzgebiet zwischen Kindheit und Jugend in Ostberlin, wird DDR-Geschichte mit aller Tragik und auch Brutalität deutlich.

Von Robert Probst

Die Kindheit spielt sich ab in einem Karree zwischen Wäscheplatz und Müllhaus, verwilderten Sträuchern, dornigen Hecken, Pappeln und Kastanien. Zwischen staubigen Asphaltstraßen und Brandmauern aus Backstein. Zwischen "Rotz, Schorf und Dreck". In einem Hinterhof in Berlin. Und dort gibt es eine Menge Abenteuer zu erleben - und viel zu lachen. Die raue sozialistische Wirklichkeit schaut zunächst nur hier und da vorbei in Matthias Friedrich Mueckes Kindheitserinnerungen aus dem Bezirk Pankow der späten Sechziger- und Siebzigerjahre. Und dennoch ist - natürlich - die Unbeschwertheit der Kindheit nicht grenzenlos.

Muecke, geboren 1965 in Ostberlin, ist heute Maler, Grafiker und Szenenbildner. Seine Erlebnisse unter dem Titel "Niemandsland" hat er auf Wunsch seiner Söhne verfasst. Auf den ersten Blick sind es autobiografische Lausbubengeschichten. Eigentlich wollte er da auch "unpolitisch rangehen", wie der Autor in einem Interview betont hat. Seine Intention: Es gab in der DDR nicht nur linientreue SED-Spießbürger oder friedensbewegte Oppositionelle, es gab nicht nur Schwarz und Weiß, sondern vor allem ganz viel Grau in ganz vielen Abstufungen. Und es gab auch überall kleine Reiche, wo man gut leben konnte und Spaß haben, solange man nicht aneckte bei Staat und Partei.

Das Buch funktioniert auf zwei Ebenen. Die Erwachsenen, die einst in der DDR lebten, werden vieles wiedererkennen, bestimmte Marken, bestimmte Ausdrücke, bestimmte Alkoholsorten (es gibt für Nicht-DDR-Spezialisten auch ein kleines Glossar). Eine besondere Rolle spielt zum Beispiel die "Dreiecksbadehose", die den Sprung vom Zehnmeterbrett im Freibad nicht gut übersteht - was dem Autor lange Zeit Albträume beschert. Eine gewisse Nostalgie ist an vielen Stellen dem Text nicht abzusprechen. Besondere Freude dürften so manchem die Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Autors machen.

Menschen aus der früheren BRD und nach dem Mauerfall Geborene können zahlreiche vergnügliche Anekdoten von zwei sehr guten Freunden lesen, die jede Menge Quatsch veranstalten, sich streiten und sich wieder vertragen, und erste Erfahrungen mit Mädchen machen. Und sie können lesen, dass nicht zwangsläufig eine düstere und gedrückte Stimmung in der DDR herrschte. Wenn die Kinder aber ihren Quatsch nicht privat veranstalten, sondern etwa in der Schule, oder als sie während der Feierlichkeiten zum 27. Jahrestag der DDR-Gründung verkleidet auf einen NVA-Panzer klettern, dann gibt es Ärger - nicht nur von den Lehrern und zu Hause, sondern von der Partei. Da hört der Spaß dann ganz schnell auf, ältere Jugendliche kommen wegen "Verunglimpfung der Staatsmacht" dafür schnell mal in den Knast, in sozialistische Produktionsbetriebe oder in Besserungsanstalten.

Muecke schreibt von diesen Eingriffen der Diktatur ins Privatleben oft beiläufig und lakonisch, gerade deshalb entfalten sie im Nachhinein eine erzählerische Wirkkraft. Den ABV, also den Abschnittsbevollmächtigten, eine Art DDR-Blockwart, galt es da ebenso zu meiden wie den prügelnden und saufenden Vater. Die Freiheit des Westens ist immer wieder ein Thema. Ebenso die geistige Enge zwischen beharrlicher Sozialismus-Indoktrination und "Ein Kessel Buntes". Die Mauer und der Todesstreifen sind nahe, die Straße zur Schule endet mit dem Schild "Grenzgebiet".

Einmal fällt ein Ball beim Spielen in den Westen, er wird von DDR-Grenzern "gerettet". Beim nächsten Mal geht es nicht mehr gut aus. Die Wahrheit kommt erst nach 1989 heraus. Am Ende gibt es keine Lausbubengeschichten mehr.

© SZ vom 04.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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