Ausstellung:Scan und Seele

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Die automatische Gesichtserkennung greift um sich - manche kaufen sich Masken, um die Algorithmen zu verwirren. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden untersucht, was das für unsere Kultur bedeutet.

Von Bernd Graff

Der Scanner hat alle im Raum verteilten Personen erfasst. Man erkennt das, weil auf einem Monitorbild alle Köpfe in diesem Raum rot umrahmt worden sind. Der eigene auch. Und nicht nur das: Wenn der Scanner ein Gesicht wahrnimmt, dann markiert er dessen Augenpartie und ergänzt die rote Kopfrahmung um eine Reihe von Zahlen und Balken, die aus einem Computerspiel stammen könnten. Aber das hier ist kein Spiel. Die Balken sind beschriftet mit möglichen Gemütszuständen, die Zahlen sind Angaben zu Alter, Geschlecht, Zeit, die dieser Kopf bereits vom System erfasst ist, und einer internen Identifikationsnummer.

Dieser Scanner ist erstaunlich schnell in der Registrierung vieler Gesichter, erstaunlich gut in der Bestimmung von Geschlecht und Alter (und dann aber - gottlob - noch erstaunlich schlecht darin, die Gefühle der Identifizierten zu lesen). Wenn sich ein Gesicht aus dem Erfassungsradius dieses Scanners heraus bewegt, später aber wieder hinein, dann versieht es das System mit seiner ursprünglichen Identifikationsnummer. Das Gesicht wurde also eindeutig registriert.

Man ist überall von Gesichtern umzingelt, ohne sie wirklich anzusehen

Dieses biometrische Gesichtserkennungssystem scannt hier nur die Besucher eines Museums. Doch falls eine solche Erkennungsprothese tatsächlich einmal flächendeckend zur Jagd auf Gesichter eingesetzt würde, müsste der Bürgergesellschaft angst und bange werden. Aber halt: falls? Ist nicht gerade genau solch ein System am Berliner Bahnhof Südkreuz mit dem Segen des Bundesinnenministers in den Einsatz unter Realbedingungen gegangen? Ein System, das vor zehn Jahren noch nicht realisierbar erschien?

Die Ausstellung "Das Gesicht. Eine Spurensuche", die gerade im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden eröffnet wurde und in der diese Biometriemaschine ihre beängstigenden Leistungen vorführt, ist also sehr nah an der Gegenwart.

"Wir sind von Gesichtern umzingelt", sagt Sigrid Weigel. Doch "diese Gesichter werden gesehen, ohne angeblickt zu werden." Die Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftlerin hat die Dresdner Ausstellung gemeinsam mit der Projektleiterin Kathrin Meyer kuratiert. Eine souveräne und klug arrangierte Schau ist daraus geworden. Es werden hier zwar "nur" etwa 150 Bilder und Objekte gezeigt. Doch macht deren plausible Aufteilung sie ebenso aufschlussreich wie vergnüglich.

Sigrid Weigel hat ja recht. Überall tauchen diese nicht mehr angeschauten Gesichter in unserem Leben auf: Neben den realen Gesichtern anonymer Zeitgenossen sind es medial vermittelte Nachrichtengesichter, Werbegesichter, TV-Gesichter, Digital- und Robotergesichter. Ein perfektes künstliches Gesicht, das die Künstlerin Kate Cooper aus einem Digitalbausatz komponiert hat, ziert denn auch das Ausstellungsplakat. All diese Gesichter wollen anscheinend zu uns sprechen, aber wir schauen sie nicht mehr an. Damit entziehen wir uns dem Wechselspiel der Blicke, das konstitutiv ist für einen wesentlichen Teil der menschlichen Kommunikation.

Denn neben der Stimme ist das Gesicht das wichtigste Medium des menschlichen Austauschs. Das liegt an seiner Physiologie, der unbehaarten Haut, der Beweglichkeit seiner Oberfläche, den vielen Muskeln, die es ermöglichen, noch in Nuancen wie dem Zucken einer Augenbraue mimisch zu agieren. So sind Gesichtszüge seit je der Ausweis von Stimmungen und Charakter. Immer schon meinte man, die unverstellte Seele in ihnen erkennen zu können. Gesichter sind die Agenten unserer Empathie.

Diese Illusion von authentischem Ausdruck, diese Ambivalenz von Sehen und Gesehenem, spiegelt sich seit je schon in der Etymologie des Wortes. So meint das althochdeutsche "gisiht" erst einmal die Vorderseite des Kopfes, den Anblick. Im Mittelhochdeutschen wird es zum Synonym für das Sehen, es meint die Augen und das Äußere. Das ist eigentlich merkwürdig: Denn wie kann ein Wort gleichzeitig ein Organ (die Augen), die Funktion dieses Organs (das Sehen), wie das Gesehene (Gesicht) bezeichnen? Offenbar ertragen wir diese Paradoxie auch heute noch problemlos, wenn wir an das "Zweite Gesicht" als Bezeichnung für eine Vision denken.

Man kann Masken kaufen, die die Algorithmen mit einem Einheitsgesicht verwirren

Das Gesicht ist nie unsichtbar. Und das Wissen um Sichtbarkeit (für sich selbst, für die anderen) macht das Gesicht eben immer zum Teil von Kultur, ihrer Konventionen und Geschichte. Und was hat man damit nicht schon alles angestellt! Charles LeBrun, einer der bedeutendsten Künstler am Hof König Ludwigs XIV., war besessen von der Idee, die einzelnen Gemütsregungen des Gesichts aufzuzeichnen und sie in einem "Handwörterbuch der Seelenmalerei", einer Art gezeichnetem Seelenatlas, niederzulegen. Doch gibt es einen Code der Gefühle, der sich in den Gesichtsregungen ausdrückt? In diese Richtung wies die einflussreiche Physiognomik des Johann Caspar Lavater, der im 18. Jahrhundert Gesichter vermaß, um ein Register von Norm-Charakteren zu erstellen. Er war davon überzeugt, dass sich Temperament und Wesen eines Menschen im Gesicht zeigen, dass innere Zustände Niederschlag in äußerem Ausdruck fänden.

Damit war Lavater kein Theorie-Exot, Lichtenberg, Goethe, Humboldt diskutierten über seine Thesen, und seine Ideen zur Charakter-Kategorisierung finden sich heute noch in den Gefühlsbalken jener eingangs erwähnten Biometrie-Scans. Solche Erkenntnisversuche waren auch die Arbeiten des Neurologen Guillaume-Benjamin Duchenne de Bologne, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte, einzelne Gesichtsmuskeln gezielt durch elektrische Stromstöße zu stimulieren, um den verzerrten Gesichtern dann Gefühle zuzuordnen. Er entwarf einen Atlas, der Gesichtsmuskeln mit Gefühlen kurzschloss.

Zwar müssen diese Versuche, eine Grammatik der Gesichtszüge zu erlernen, eigentlich als gescheitert betrachtet werden. Doch finden solche Modelle auch heute noch Verwendung, bei Polizeizeichnern etwa, die Phantombilder entwerfen. Und im Facial Action Coding System (FACS), das der Amerikaner Paul Ekman von den 70er-Jahren an entwickelte. Mehr als zehntausend verschiedene Gesichtsausdrücke hat das FACS mittlerweile in einem Katalog registriert, er bildet heute die Grundlage für jene Algorithmen, die jedes Mitglied einer Gesellschaft samt seiner emotionalen Verfassung aufzeichnen wollen.

Die Dresdner Ausstellung belegt darum auch die Versuche des Widerstands gegen die Dauerfremderfassung, in Form von futuristisch anmutenden Brillengestellen, die man zur Verwirrung der Algorithmen aufsetzen soll, und in der zum Preis von 200 Dollar zu habenden Maske "URME Personal Surveillance Identity Prosthetic", die bei massenhafter Verbreitung den gierigen Algorithmen nur ein unbewegliches Einheitsgesicht vorsetzen würde. Denn die Gesichtserkennungs-Modelle sind bei Militär, Geheimdiensten und Firmen wie Facebook und Google heute so angesagt wie nie. Auch Marktforscher, Werber, die Entwickler künstlicher Intelligenz sind ganz versessen darauf, das komplizierte Mienenspiel unserer Gesichter zu endindividualisierten und mithilfe von Computern einfach zu handhabender Schablonenemotionen lesbar zu machen.

So ist das Gesicht jenseits von traditioneller Kosmetik und Make-up auch längst Schauplatz aktiver Gestaltungsbemühungen. Die Arbeit am gefälligen Antlitz, die alle Kulturen der Welt unterschiedlich gerichtet aufbringen, sind in der Ausstellung dokumentiert in einer Reihe von Schaufensterpuppenköpfen aus über 100 Jahren, in denen Gesichtsmoden und Schönheitsideale fixiert bleiben. Die plastische Chirurgie, die hier in frühen Studienobjekten für Studenten repräsentiert ist, entwickelte sich seit dem Ersten Weltkrieg von der unmittelbaren Wundversorgung zum invasiven Akt, der heute keine medizinische Notwendigkeit mehr kennen muss.

Wie sehr die von außen kommenden Idealbilder vom schönen Gesicht in uns allen wirken, hat die Schriftstellerin Joyce Carol Oates einmal anhand einer Erfahrung beschrieben, die wohl viele schon gemacht haben. Sie begegnet völlig unerwartet ihrem eigenen Spiegelbild: "Wie inmitten einer Explosion zwischen meinen Augen" erkennt sie sich. "Ich bin außer Atem und verwirrt. Ich bin nicht dazu bereit." Denn sie sieht das, was sie sonst durch Kleidung, Mimik, Haltung und Gesten immer zum Verschwinden bringen will.

Nirgends sind diese Bemühungen um ein Idealgesicht erkennbarer als in den Bildnissen der Kunst und Porträtfotografie, die nur angefertigt werden, damit sie angesehen werden. Für Roland Barthes war darum schon das bloße Fotografiertwerden eine Überschreitung. Er beschreibt, "wie ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt bin, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt." Denn hier wird das Gesicht nach vorgegebenen Normen überhöht, sei es in Inszenierungen der Malerei und der Atelierfotografie, der Wahlplakate, der Selfies, sogar in den Totenmasken. Doch jedes lebende, individuelle Gesicht ist ja immer nur eines von vielen Gesichtern dieses Individuums. Nichts macht diese frappierende Erfahrung für unsere Lesebemühungen von Gesichtern deutlicher als die "Screen Test"-Serie von Andy Warhol, in der Ausstellung gezeigt im Dreiminutenporträtfilm der Ann Buchanan. Wir bemerken, dass ihr Gesicht nichts tun will, als nichts zu tun. Und dann weint es.

Das Gesicht. Eine Spurensuche. Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, bis 25. Februar 2018. Begleitpublikation (Wallstein Verlag) 24,90 Euro. Info: www.dhmd.de

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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