Ausstellung:Im Dschungel der Geschichte

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Die Arbeiten von Marcel Odenbach beschäftigen sich mit der Verdrängung, Aufarbeitung oder Instrumentalisierung von Vergangenheit. Die Kunsthalle Wien widmet ihm eine Schau.

Von Julia Niemann

Auf den ersten Blick ist es ein undurchdringlicher Dschungel. Gräbt sich das Auge aber tiefer ins Dickicht der Palmenblätter, zeigt sich etwas anderes: afrikanische Kolonialgeschichte. Das Landschaftsbild besteht aus unzähligen Bildfragmenten, die von Ausbeutung und Unterdrückung erzählen. In der Collage "Durchblicke" (2007) konfrontiert der Künstler Marcel Odenbach die Lust am Exotischen mit der Geschichte kolonialer Verbrechen. Und bringt damit sein großes Thema auf den Punkt: Odenbachs Bilder und Videoarbeiten, die derzeit in einer Schau in der Kunsthalle Wien gezeigt werden ("Beweis zu nichts", bis 30. April), haben alle mit Geschichtsschreibung zu tun, mit Verdrängung, Aufarbeitung und Ideologisierung von Vergangenheit.

Das Video "Im Schiffbruch nicht schwimmen können" von 2011 (unser Bild, Abb.: Katalog) zeigt drei Afrikaner, die im Louvre Théodore Géricaults berühmtes Historiengemälde "Das Floß der Medusa" betrachten. Das 1819 entstandene Bild zeigt ein besonders skandalöses Kapitel der französischen Kolonialgeschichte: Auf ihrem Weg nach Senegal, um die Kolonie von den Briten zu übernehmen, erlitt die Fregatte Medusa Schiffbruch. Man baute ein Floß zur Rettung, auf dem allerdings nach kurzer Zeit Kannibalismus ausbrach. Nun sitzen die afrikanischen Flüchtlinge vor diesem Kulturerbe und betrachten es wie einen fernen Horizont.

In der Videoarbeit "Deutschstunde" (2006) lässt Odenbach Schüler eines Münchner Gymnasiums aus Biografien lesen, die vom jüdischen Leben zur Zeit des Nationalsozialismus erzählen. Sie beschreiben den Moment des Umschwungs, der zunächst unscheinbaren Veränderungen des Alltags, die schließlich zum Kippen des Systems führen. Der vermeintlich plötzliche Umbruch in der Geschichte erweist sich als Illusion. Vergangenheit entsteht aus dem Hier und Jetzt - diese Zeugenschaft bringt eine Verantwortung für jeden Einzelnen mit sich. Das Vorlesen in "Deutschstunde" wird immer wieder mit Aufnahmen eines Kreisels unterlegt, der sich auf einer Tischplatte dreht. Das Erinnern darf nicht zum Stillstand kommen, aber es bewegt sich auch nicht von selbst: Es braucht den Antrieb der Erinnernden, sonst dreht sich die Geschichte im Kreis.

Ein solches Sich-im-Kreise-Drehen der Geschichte zeigt Odenbach in seiner jüngsten Arbeit "Beweis zu nichts" (2016), die sich mit dem Mahnmal im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald befasst. Die 1952 von Bertolt Brecht und dem Künstler Fritz Cremer entworfene Skulptur zeigt eine Gruppe von Männern mit Widerstandskämpfern des KZ. Odenbachs Kamera nähert sich der Gruppe in Kreisbewegungen an, eine endlose Fahrt. Nach und nach legen eingeblendete Dokumente die Geschichte des Denkmals frei: Der vom sozialistischen Realismus geprägte Entwurf sollte nicht nur erinnern, sondern auch vermitteln, wie aus Kampf und Opfertod ein besseres, ein sozialistisches Deutschland erwachsen war. Die eine Ideologie wurde von der nächsten vereinnahmt - nicht nur symbolisch: Die Sowjets nutzten die Infrastruktur des Lagers für die Inhaftierung der eigenen politischen Gefangenen. Der Film wird selbst zum Mahnmal für die nie endende Möglichkeit der Wiederholung von Geschichte. Und dafür, das Ungesagte der Vergangenheit sichtbar zu machen, aus so vielen verschiedenen Perspektiven wie nur möglich.

© SZ vom 10.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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