Im 18. Jahrhundert verkauften viele arme japanische Bauernfamilien ihre Töchter mit sieben Jahren ins Bordell. Nicht in irgendein Bordell, sondern nach Yoshiwara, in die Prostitutionsstadt vor den Toren Edos, dem heutigen Tokio. Hier lebten die Mädchen bis zu ihrem 27. Lebensjahr eingesperrt als Kurtisanen, und obwohl sie in der Standesgesellschaft der Shogun-Diktatur kaum Rechte genossen, glich ihr Ansehen dem von heutigen Pop- und Mode-Idolen. In der Millionenmetropole mit ihrer streng militärischen Organisation, wo Männer zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten, war das Thema Sex so wichtig, dass die "Freudenmädchen" - oder wie es in Edo damals hieß, die "nachts singenden Vögel" - eine seltsame Form universeller Anbetung genossen. Auch bei Frauen, für die Yoshiwara das Mode-Paris und die Sexarbeiterinnen mit ihrem Kimonostil die Topmodels der Zeit darstellten.
Da der Besuch in der freizügigen Enklave mit ihrer unfreien Befestigung aus Wall und Graben nur wohlhabenden Männern möglich war, spielten Manga (im Deutschen gibt es die Pluralformen Manga und Mangas, Anm. d. Red.) die entscheidende Rolle für die Popularisierung des erotischen Starkults in der Samurai-Epoche. Bildgeschichten im Holzdruck, die ab 1680 zu einem Massenphänomen wurden, boten im streng reglementierten Staatswesen geistige Fluchtwege. Obwohl der Name "Manga" erst in der Epoche des berühmtesten grafischen Erzählers der Edo-Zeit, Katsushika Hokusai, Ende des 18. Jahrhunderts geprägt wurde, war das Comic-Heft da schon hundert Jahre das wichtigste Triebventil im Willkürstaat der Shogun-Herrscher, wie die umfassende Ausstellung "Hokusai Manga" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, kuratiert durch Nora von Achenbach, beschreibt.
Am Anfang des grafischen Erzählens standen die "Frühlingsbilder", die Shungas, was die typisch japanische Poetisierung eines schlüpfrigen Sachverhaltes ist, denn hierbei handelt es sich um Masturbationsvorlagen. Ab 1680 wurden explizite Porno-Darstellungen (die im Museum in einem Extrakabinett gezeigt werden) zum Wegbereiter jener grafischen Massenkultur, wie sie als Exportschlager heute das Bild Japans in der Welt bestimmt. Und tatsächlich schöpfen die heutigen Figurengeschichten noch aus denselben Quellen, die sich im 17. Jahrhundert in den Ateliers der Holzschnitzer Edos zusammenfanden: Dämonen, Schwertkämpfer, stilisierte Frauenfiguren, überwältigende Hintergründe und natürlich Sex.
So zeigt die sehr umfangreiche und informative Quellenschau der Ausstellung "Hokusai Manga" die Urahnen von Pokémon und Totoro, Akira und Son Goku, Chihiro und Zelda in den original Faltheften der Edo-Zeit. Zum Beispiel, was die reiche Zoologie skurriler Wesen betrifft, die mit den Nintendo-Spielen ihren Weg in die Kinderzimmer fanden: Sie alle leiten sich aus dem reichen Kosmos der Yokai ab, der japanischen Dämonen. In den historischen Enzyklopädien der Geister finden sich die aberwitzigsten Wesen und Gestaltwandler, Tierfiguren und Wiedergänger, die nicht nur die Manga- und Games-Kultur, sondern auch den japanischen Horror- und Monsterfilm mit Anregungen füttern.
Disneys "Monster AG" ist die Adaption eines alten japanischen Dämonen-Grusel-Motivs
Noch viele andere populäre Erscheinungen finden ihre Wurzeln im japanischen Geschichten- und Bilderfundus des 17. Jahrhunderts. Die Vorliebe für Kinderhelden hat ihren Ursprung im alten Mythos vom übermenschlich starken Knaben aus der Wildnis, Kintaro, so wie die ritualisierten Kämpfe in heutigen Video-Games in den Heldengeschichten aufrechter Samurais. Und obwohl sich manches Schönheitsideal über die Jahrhunderte stark gewandelt hat - etwa das der schwarz gefärbten Zähne und schmalen Augenstriche der angehimmelten Yoshiwara-Kurtisanen -, ist die extrem typisierte, um nicht zu sagen: stereotype Darstellung der Frau in den Manga eine mindestens so starke Konstante seit dem 17. Jahrhundert wie die konsequente Zweidimensionalität.
In seinem 2000 erschienenen Buch "Superflat" behandelte Takahashi Murakami diese Vorliebe der japanischen Bildkunst für das Flache und deutete es als Metapher für die Sucht nach Oberflächlichkeit, die die japanische Konsumgesellschaft beherrsche. Der Künstler, der selbst aus der Verbindung von Manga-Kultur und Pop-Art ein Kommerz-Imperium geschaffen hat, sah damals vor allem in der Otaku-Kultur junger Menschen, die sich in die Bildwelten der Animes hineinfantasieren, einen nivellierenden Einfluss der japanischen Populärkultur - erntete dafür aber auch vehementen Widerspruch.
Schließlich hat der globale Kulturaustausch das zweidimensionale Figurenrepertoire der Manga längst ins 3-D-Format übertragen, ohne dass sich dadurch groß etwas an der allgemeinen Liebe zum Seichten geändert hätte. Zudem entwickelten sich aus dem Siegeszug der Yokais immer wieder überzeugende Neuerzählungen der alten Stoffe. Der Besuch eines kleinen Mädchens in einem Badehaus für die 40 Millionen Götter Japans, das Hayao Miyazaki in "Chihiros Reise ins Zauberland" zu einem kulturübergreifend begeisterungsfähigen Anime ausgemalt hat, schafft mit seinen bizarren Geistwesen sicherlich die direkteste Verbindung zur japanischen Antike des Unheimlichen. Aber auch Disneys "Monster AG" ist eine Adaption des "Nächtlichen Zugs der hundert Dämonen", eines beliebten Motivs der alten japanischen Grusel-Leporellos, nur im Kuscheltiermodus.
Auch die formalen Elemente, etwa Sprechblasen, wurden schon zur Shogun-Zeit erfunden
Vor allem aber haben Manga seit Japans Eintritt in die Moderne eine derartige Vielfalt an Ausdrucksmitteln und zeitgenössischen Geschichten entwickelt, dass man das schöne Erbe kaum für engstirnigen Konsumrausch verantwortlich machen kann. In Hamburg wird mit Keiji Nakazawas "Barfuß durch Hiroshima" der politische Manga hervorgehoben. Beispiele für Seinen-, Josei- und Shonen-Manga, die - mal realistisch, mal versponnen - das japanische Alltagsleben behandeln, gehören ebenso zur Fortentwicklung der Manga-Kultur wie die Vielzahl der apokalyptischen Science-Fiction-Welten oder die Darstellung sexueller Fantasien. Gefesselte Freiheiten in einer normierten Welt oder die Konsequenzen gewalttätiger Politik werden wie zur Shogun-Zeit in vielen Formaten behandelt.
Obwohl also bereits vor 300 Jahren in Tokio alle Grundelemente der grafischen Erzählkunst erfunden wurden (inklusive der formalen Elemente wie Sprechblasen oder der Darstellung von Bewegung und Geräusch), ist das Mangaformat so strapazierfähig geblieben, dass es sich immer wieder ausdehnen kann. Dabei hätte die Perfektion von Hokusai und seinen Zeitgenossen aus dem 19. Jahrhundert, die einen Tsunami mit der gleichen atmosphärischen Fantasie in unsterbliche Bildwerke verwandelt haben wie Sex- und Yokai-Szenen, jeden Nachfolger eigentlich frustrieren müssen. Stattdessen sangen die Kurtisanen der Fantasie einfach weiter, tags und nachts, mit Pinsel und Stift. Mangafique!
Hokusai x Manga - Japanische Popkultur seit 168 0. Bis 11.9. im MKG Hamburg. Infos: http://hokusaixmanga.mkg-hamburg.de