Ausstellung:Die Toten beglücken

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Mit der Ausstellung "Giacometti, gesehen von Jean Genet" wird im Pariser Stadtviertel Montparnasse ein kleines Giacometti-Museum eingeweiht - Zentrum ist die Rekonstruktion seines alten Ateliers.

Von Joseph Hanimann

Das kleine Atelier mit dem festgestampften Erdboden in der Rue Hippolyte Maindron bei Montparnasse war in der Nachkriegszeit ein mythischer Ort des Pariser Künstlermilieus. Malgeräte, verstaubte Flaschen, fertige oder halbfertige Bilder und Skulpturen, Töpfe, Mischkübel - "ein einziges Schlachtfeld aus Gips", bemerkte ein Besucher. Brassaï, Robert Doisneau, Sabine Weiss, Ernst Scheidegger haben dieses Atelier fotografiert. "Inmitten alter Terpentinflaschen seine Palette der letzten Tage: eine Schlammpfütze aus unterschiedlichem Grau", schrieb Jean Genet, der von 1954 an in diesem Raum Modell saß, in seinem Text "Das Atelier Alberto Giacomettis", der wohl schönsten schriftstellerischen Atelierbeschreibung der Moderne.

Von 1926 bis zu Giacomettis Tod im Januar 1966 ist dieser Atelierraum mit dem Stahlofen und dem Bett an der Wand praktisch unverändert geblieben. Auch danach suchte die Witwe Annette ihn weiter zu bewahren, musste ihn 1972 jedoch aufgeben. Die Wände mit Giacomettis Skizzen und Notizen wurden in Stücke zersägt und eingelagert. Bis zu ihrem Tod 1993 hat die Witwe den Nachlass sorgfältig gehortet: 5000 Zeichnungen, Drucke, Manuskripte, 350 Skulpturen, 90 Gemälde sowie Bücher und Fotos. Die zu diesem Zweck geschaffene Fondation Giacometti hatte sie in einem rosenumrankten Innenhof des Odeon-Viertels auch Räumlichkeiten gekauft. Aus diesem Zaubergarten trat die Fondation aber kaum an die Öffentlichkeit. Sie beschränkte sich auf die Mitveranstaltung von Ausstellungen rund um die Welt und widmete sich gemeinsam mit ihrer Schwesterorganisation, der dem Kunsthaus Zürich angegliederten Schweizerischen Giacometti-Stiftung, vor allem der Konservierung, Erfassung und Erforschung des Künstlererbes, mit ziemlich klarer Aufgabenteilung. Am Standort Zürich befinden sich die durch Schenkungen und Ankäufe zusammengekommenen Werke vorab der früheren Jahre, Paris verwaltet den Nachlass.

Der 2014 angetretenen neuen Fondation-Direktorin Cathérine Grenier, ehemals stellvertretende Leiterin des Musée national d'art moderne im Centre Pompidou, schwebte aber mehr vor, ein öffentlich zugängliches Museum. Durch den Verkauf eines Bildes von Juan Miró aus ihrer Sammlung konnte die Fondation zwei Etagen einer ehemaligen Künstlervilla im Montparnasse-Viertel erwerben, die Wohn- und Werkstatt des Dekorationskünstlers Paul Follot in den Jahren 1912 bis 1914. Nun wurde darin ein kleines Museum eingeweiht, auf insgesamt 350 Quadratmetern, das "Institut Giacometti". Mit den prächtigen, zwischen Art Déco und Art Nouveau changierenden Zierelementen entspricht es zwar nicht unbedingt dem asketischen Geist Giacomettis. Doch sind die ineinander verschachtelten, eher intimen Räume ihm auch wieder nicht ganz fremd.

Im Erdgeschoss wurde hinter einer Glaswand mit erhaltenen Mauerstücken, dem Mobiliar, den Werken und Utensilien - bis hin zu angeblich authentischen Zigarettenstummeln - das ursprüngliche Atelier rekonstruiert. In der Zwischenetage darüber folgt das Grafik-Kabinett und in den Alkoven, Mezzaninen und Salons weiter oben, die der Architekt Pascal Grasso sorgfältig restauriert hat, befinden sich Räume für Dauer- und Wechselausstellung sowie für Giacomettis Privatbibliothek. Die Besucherzahl ist auf 40 Personen beschränkt, die Reservierung per Internet obligatorisch, um die dem Künstler angemessene Intimität im Umgang mit seinen Werken zu wahren.

Durch Vermittlung Sartres lernten sich Giacometti und Jean Genet 1954 kennen

Die erste Wechselausstellung des Instituts ist dem Blick Jean Genets auf das Atelier Giacomettis gewidmet. Die beiden Künstler hatten sich durch die Vermittlung Sartres 1954 kennengelernt. Zahlreiche Porträtzeichnungen und drei gemalte Genet-Porträts sind in den Jahren danach entstanden. Stundenlang saß der Schriftsteller bewegungslos auf seinem Strohstuhl im Atelier, das lange Schweigen, die Konzentration, die knisternde Komplizität hat er in seinem Text "L'Atelier d'Alberto Giacometti" festgehalten. "Wie schön Sie sind", habe der Maler manchmal zwischen zwei Pinselstrichen ins Schweigen gemurmelt und dann mit noch größerer Bewunderung hinzugefügt: "Na, schön halt wie jedermann, weder mehr, noch weniger". Giacometti habe allen Menschen und Dingen den Schein der Üblichkeit genommen und sie in ihre Einsamkeit gestellt, schrieb Genet. Es sei, als wollten sie sagen: Ich bin allein und stehe in meiner alleinigen Notwendigkeit, gegen die du als Betrachter nichts vermagst: Indem ich nur bin, was ich bin, bin ich unzerstörbar. Jedes große Werk müsse, folgert Genet, "Jahrtausende weit hinabsteigen" bis zu der von den Toten bevölkerten Nacht der Gedächtnislosigkeit. Insofern habe Giacometti nicht für seine Zeitgenossen gearbeitet, sondern Werke geschaffen, "die die Toten beglücken".

Mit wenigen ausgesuchten Exponaten lässt die Ausstellung das gemeinsame Wahrnehmungsfeld zweier sehr unterschiedlicher Künstler erahnen. "Vier Frauen auf einem Sockel" heißt eine Skulptur von 1950, für die Giacometti Prostituierte zum Vorbild nahm. Wenn er sie im Zimmer nackt vor sich habe, sehe er Göttinnen, bemerkte er dazu. Eine ähnliche Umwertung der Hierarchien vom Erniedrigten zum Höchsten mochte auch Genet vorschweben, als er das 1956 herausgekommene Stück "Der Balkon" im Bordell spielen ließ. Seinen Freund Giacometti bat er um die Gestaltung des Bucheinbands. All das ist in der Ausstellung zu sehen. Einfangen lassen sich solche Querläufer der Kunst durch elegante Museumsgründungen zwar so wenig, wie sie dadurch institutionalisiert werden können. Kunstinteressierten Besuchern hat Paris fortan eine lohnende neue Adresse zu bieten.

L'Atelier d'Alberto Giacometti vu par Jean Genet . Bis 16. September. Institut Giacometti, Rue Victor Schoelcher, Paris. Der Katalog kostet 24 Euro. Info: www.fondation-giacometti.fr/institut

© SZ vom 02.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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