Ausstellung:Die Macht der Maßstäbe

Lesezeit: 4 min

Der deutsche Fotokünstler und Turner-Preisträger Wolfgang Tillmans kann, von Chris Dercon kuratiert, in der Tate Gallery in London das ganze thematische Spektrum seiner Arbeit ausbreiten.

Von Alexander Menden

Ein Stillleben, eine orientalische Szene, ein Interieur - Wolfgang Tillmans arbeitet in den klassischen Genres der westlichen Kunst. Den Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich im dritten Raum seiner Werkschau in der Tate Modern umschaut: "Astro crusto", eine der stärksten Arbeiten der Schau, zeigt nicht nur die in Rosa- und Pinkschattierungen leuchtenden Teile eines aufgebrochenen Krebses (traditionelles Sinnbild einer Welt, in der etwas verkehrt läuft), in der Mitte sitzt sogar das Vanitas-Symbol schlechthin, eine Fliege. Der großformatige nordafrikanische Markt, der eine ganze Stirnwand beansprucht, wirkt wie ein ironischer Pastiche der Exotikmalerei des 19. Jahrhunderts. Und das Hotelzimmer, in dessen Fernseher sich das ungemachte Bett spiegelt, zitiert wohl kaum zufällig Perspektiven, die man aus Jahrhunderten der Interieurdarstellung kennt.

Beim britischen EU-Referendum sah sich Tillmans in die Rolle des Mahners versetzt

Aber solche klassischen Szenen sind natürlich nur ein Aspekt des thematisch überbordenden Werks von Tillmans. In Remscheid geboren und in Bournemouth ausgebildet, war er 2000 der erste Fotograf und erste Nicht-Brite, der den Turner-Preis gewann. Damals war er vor allem für seine Beobachtungen hedonistischer Momente in der Raver-Szene berühmt. Mittlerweile betrachtet er sich selbst als "Aktivist für Mäßigung", und das ist vor allem politisch zu verstehen. Seine ebenso leidenschaftliche wie letztlich erfolglose proeuropäische Poster-Kampagne vor dem britischen EU-Referendum etwa war keine Kunstaktion. Sie war Teilnahme an einem demokratischen Prozess, von dem EU-Ausländer wie Tillmans selbst, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Großbritannien lebt und arbeitet, zwar betroffen, an dem sie aber bei der eigentlichen Volksabstimmung ausgeschlossen waren. Der Fotograf sah sich in die Rolle des Mahners versetzt, auf den letztlich zu wenige hörten.

Die Londoner Ausstellung ist die letzte große Schau, die der im vorigen Jahr aus dem Amt als Tate-Modern-Chef geschiedene künftige Volksbühnen-Leiter Chris Dercon mitgestaltete. Jenen, die befürchten, mit Dercon werde der Geist ungezügelter Globalisierung am Berliner Theater Einzug halten, könnte ein Besuch in der Tate vielleicht ein bisschen die Angst nehmen. Für manche Kulturschaffende, speziell in Deutschland, stehen Tillmans und Dercon für eine markthörige Kunstproduktion. Wenn man die Vitrinen studiert, in denen Tillmans nicht nur eigene Arbeiten, sondern vor allem Recherchematerial wie Berichte über Nahrungsknappheit in Nigeria oder wissenschaftliche Abhandlungen zur Selbsterschaffung von Parallelrealitäten in sozialen Netzwerken zeigt, dann fällt es vielleicht etwas schwerer, jemanden wie ihn oder seinen Kurator Dercon in der derzeitigen politischen Weltlage als den Feind zu betrachten.

Eine Fotorbeit Tillmans': "astro crusto" zeigt die Teile eines aufgebrochenen Krebses - traditionelles Sinnbild einer Welt, in der etwas verkehrt läuft.

"Prinzessinnenstrasse", ein Beispiel für Tillmans' typische Komposition des vordergründig Zwanglosen: Vermeintliche Schnappschüsse sind meist strukturierte Tableaus.

"Chingaz" ist aus der "Paper Drop"-Reihe, die Fotografien von gebogenem oder gefaltetem Fotopapier zeigt, das Lichteinstrahlungen ausgesetzt wird.

1 / 2
(Foto: Wolfgang Tillmans/VG Bildkunst, Bonn 2017/AFP)

Wolfgang Tillmans: In Remscheid geboren und in Bournemouth ausgebildet, war er 2000 der erste Fotograf und erste Nicht-Brite, der den Turner-Preis gewann.

2 / 2
(Foto: Wolfgang Tillmans/VG Bildkunst, Bonn 2017/Reuters)

Noch bis zum 11. Juni sind Tillmans' Werke im Tate Modern in London zu sehen. Ganze 14 Räume füllt die Schau dort.

Was die Londoner Ausstellung auszeichnet, ist, dass man den soziokulturellen, politischen Subtext natürlich mitdenken kann, wenn man Tillmans' Bilder betrachtet. Angesichts der Überbleibsel eines gekenterten Bootes an der Küste von Lampedusa kann man sich der Flüchtlings-Assoziation kaum erwehren. Dass der Lichtfleck auf einer dunklen See vom Helikopter eines italienischen Küstenwacht-Hubschraubers bei einer Rettungsaktion geworfen wird, muss man hingegen wissen, um diese Verbindung herzustellen. Und so ist es in den meisten Fällen: Es bleibt dem Besucher überlassen, ob er die kommentarlos präsentierten Bilder mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen lesen oder sie mit eigener Bedeutung füllen will. Scheinbar Alltägliches und Uninteressantes festzuhalten war lange Zeit ein bedeutendes Merkmal der Fotografie von Tillmans. Bei ihm wirkte alles gleichwertig, und nichts gleichgültig. Nun sind aber in der Instagram-Ära Dinge wie ein Autoscheinwerfer oder ein Wasserfall, sind scheinbar flüchtige Blicke auf den Nacken eines jungen Mannes oder eine Baustelle Motive, die potenziell tausendfach in den Smartphone-Fokus rücken. Was hebt Wolfgang Tillmans da noch heraus, der ja selbst sagt, er folge einer Idee erst, wenn sie "dreimal an die Tür des Unterbewusstseins geklopft" habe?

Bei Tillmans sind vermeintliche Schnappschüsse meist strukturierte Tableaus

Es stellt sich heraus, dass es seinen Arbeiten zum Vorteil gereicht, in der Tate ganze 14 Räume füllen zu dürfen. Vor sieben Jahren krankte die Tillmans-Ausstellung in der Serpentine Gallery daran, dass sowohl seine Riesenformate als auch sein großes thematisches Spektrum den Rahmen des kleinen Hauses in Kensington Gardens sprengten. Jetzt hingegen können sich die gewaltigen Tintenstahldrucke ausbreiten. Das Format ist hier bedeutend, denn in vielen Fällen macht gerade der Kontrast von Gegenstand und Präsentation die Wirkung des Fotos aus. "Encounter" zeigt Keimlinge in einem Metalleimer - aber auf annähernd zwei mal drei Meter hochgezogen, "Weed", in einem ähnlichen Format, ein Unkrautpflänzchen in einer Pflasterritze, groß wie ein Baum. Solche auf einem Smartphone nicht reproduzierbare Maßstabsverschiebungen erweisen sich als wahre Offenbarungen der Detailbeobachtung.

Das Unhierarchische setzt sich auch in Tillmans' Porträtfotografie fort. Bis auf ein großformatiges Bild des Architekten Oscar Niemeyer stechen Bilder bekannter Persönlichkeiten wie des Kunsthistorikers Neil MacGregor oder des Musikers Morrissey nicht aus einer ganzen Reihe von Porträts hervor, die eine halbe Wand bedecken. Hier zeigt sich in besonderem Maße die für Tillmans typische Komposition des vordergründig Zwanglosen. Denn das ist der Hauptunterschied zur Handybilderflut der Gegenwart: Bei Tillmans sind vermeintliche Schnappschüsse meist strukturierte Tableaus. Und auch ein selbstreflexives Element (nicht zu verwechseln mit Selfie-Narzissmus) spielt eine immer wichtigere Rolle seiner Motivwahl. Da ist einerseits die "Paper Drop"-Reihe, Fotografien von gebogenem oder gefaltetem Fotopapier, das selbst wiederum verschiedenen Lichteinstrahlungen ausgesetzt wird. Der materielle Aspekt der Fotografie rückt dadurch in den Vordergrund - für Tillmans, der erst vor fünf Jahren vollständig auf digitale Technik umstellte, eine Erinnerung daran, wie sich durch die Technik letztlich auch das Produkt verändert. Das Bild eines komplett zerlegten Tintenstrahldruckers wirkt da fast wie ein Dokument der Rache an dieser technischen Fremdbestimmung.

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Und doch eröffnen sich durch solche Druckmethoden visuelle Horizonte, die früher utopisch erschienen. Im letzten Raum hat Wolfgang Tillmans gleichsam das Meer an die Wand geheftet. "The State we are in" zeigt eine graue, mäßig bewegte See in einem so gigantischen Format, dass es trotz seiner Starre aus der Wand hervorzuschwappen scheint. Es ist ein überwältigendes Bild gleichgültiger Natur. Der Titel "The State we are in" ("Der Zustand, in dem wir uns befinden") ist, wie oft bei Tillmans, ambivalent. Angesichts des Motivs könnte man im Geiste ergänzen: "All at Sea" - was auf Englisch schlicht "ratlos" bedeutet. Aber das wäre ein zu pessimistischer Abschluss für eine Schau, die zwar nicht die Welt abbildet, aber mit einigem Erfolg ihrer Vielfalt gerecht zu werden versucht.

Wolfgang Tillmans, Tate Modern, London, bis 11. Juni. Info: tate.org.uk. Katalog: 24,99 Pfund.

© SZ vom 25.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: