Aus der Jugend der alten Bundesrepublik:Schwäne schlachten

Lesezeit: 7 min

Gegen das "Restauratorium": Peter Rühmkorfs und Werner Riegels Zeitschrift "Zwischen den Kriegen" gibt es jetzt in einer opulenten Faksimileausgabe. Eine Entdeckung.

Von Willi Winkler

Mit der Post kommt ein Trumm von Buch, Familienbibelformat, gut fünf Pfund schwer, bestes Papier, säure- und auch sonst beständig mindestens bis ins nächste Jahrhundert, enthaltend aber im vollständigen Faksimile die wohl vergänglichste Literaturzeitschrift, die es je gab, Zwischen den Kriegen, von Ende 1952 an dreieinhalb Jahre lang in unregelmäßigen Abständen erschienen, Auflage 120 hektografierte Stück, gelegentlich sogar schwindelerregende 150.

Diese Ausgabe ist eine verlegerische (oder vielmehr mäzenatische) Großtat, die den Ur-Autoren, wären sie noch am Leben, die Tränen in die Augen treiben würde. Was für ein Aufwand für ihre kleinen und größeren Verse und eifrigen Aufsätze, für diese Schinderei mit den Matrizen, abgezogen auf einer Wäscherolle! Die Dichterjünglinge Peter Rühmkorf und Werner Riegel schrieben, aufgeplustert und verstärkt durch mehrere Pseudonyme, die Beiträge für ihr Blatt fast alle selber und versandten die Hefte, getippt von Almut Bock, an mehr vermutete als echte Leser mit der Beteuerung, sie seien "kein Geschäftsunternehmen". Auch kleinste Spenden waren willkommen.

Die Form war aus der Not geboren: Die beiden Dioskuren waren so arm, wie es nur die Boheme erlaubt. Riegel leistete sich zwar den Luxus einer Familie mit Frau und Kind, aber die drei bewohnten nicht mehr als ein größeres Zimmer, in dem sich auch eine Bibliothek mit tausend expressionistischen Rara befand und wo nächtens bei Zigaretten und sehr viel Alkohol die Redaktionssitzungen abgehalten wurden. Tagsüber wirkte Riegel als Bürobote, während Rühmkorf noch auf Lehramt studierte und jede Art Studentenjob annahm, darunter auch Sandwich-Mann, Kaffee-Mohr und Anpreiser der 1952 erstmals erscheinenden Bild.

Die Zeitschrift war radikal pazifistisch und ebenso radikal literarisch

Die Zeitschrift sollte dem Abdruck von Gedichten dienen, "zumal unserer eigenen", wie Rühmkorf rückschauend einräumte, "aber auch der Verbreitung von politischem Widerstandsgeist". Genau daran mangelte es in den ersten Jahren der Bundesrepublik, in der Kultur jedenfalls oder an der Universität, in der Politik erst recht. Konrad Adenauer betrieb mit Kommunismusfurcht die Wiederaufrüstung, was die Rehabilitierung der ehemaligen NSDAP- und SS-Angehörigen einschloss.

Zwischen den Kriegen war radikal pazifistisch und ebenso radikal literarisch, eine Sumpfblüte des spezifisch Hamburgischen Untergrunds, zu dem Kommunisten aus dem Hafen, jüdische Re-Migranten und etliche Studenten gehörten, die auf eine Karriere in den bewährten Medien aus waren. Klaus Rainer Röhl und Rühmkorf priesen sich in einem Kabarettprogramm als "KZ-Anwärter des 3. Weltkriegs" an, und Riegel und Rühmkorf erfanden eine endgültige Kunstrichtung namens "Finismus" mit genau zwei Aktivisten, ihnen beiden. Die Zeitschrift hätte ein besserer Studentenscherz werden können, zeigte jedoch dafür zuviel erbittertes Literatentum im stolzen Bewusstsein, damit ganz allein in der Welt zu sein. "Wir haben wenigstens keine Anhänger", protzte Riegel in einem Brief an ihren glühendsten und einzigen Anhänger.

Der Titel Zwischen den Kriegen war kein Witz, sondern todernst gemeint. Riegel und Rühmkorf verstanden sich als "Systembildner" gegen die gesamte Nachkriegswelt. Politisch schlugen sie die "Heinemannrichtung" ein, nach dem Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, der die Remilitarisierung des Kanzlers nicht mitmachen wollte, weil er dadurch die deutsche Einheit gefährdet sah. Der angehende Germanist Rühmkorf klagte über die Zustände an der Hamburger Universität: "Es fehlt hier ja allenthalben an Geist von links." Hans Pyritz, bei dem er im Seminar sitzt ("Pyritz selbst ist ein ganz großes Arschloch"), war, was Rühmkorf nicht wissen konnte, SA- und NSDAP-Mitglied und dazu fürs Amt Rosenberg tätig gewesen und selbstverständlich gegen einen "Arbeitskreis progressive Kunst", der sich da unter seinen wachsamen deutschnationalen Augen bildete.

Mitten im aufschießenden Wirtschaftswunder kehrte Riegel mit seinem Unternehmen (denn im Wesentlichen ist es doch seines) freiwillig in die Armut zurück. Der Schlachtruf einer ganz eigenen Arte Povera, "Wir proklamieren den Hektographismus!", richtet sich gegen die "Einsegnungsjünglinge um den Kilometerstein 47" (gemeint ist die gleichzahlige Gruppe), gegen jede Art anerkannter Literatur, gegen fast alles. Vom "Restauratorium" ist gern die Rede, auch von der "klerikalfaschistischen" Demokratie.

Adenauer ist der "Asinissimus", der oberste Esel, und Bundespräsident Heuss, der ehemalige Journalist, wird zum "Sitzredakteur der Republik" ernannt. Aber was ist schon zu gewinnen gegen eine Front, wo der "ästhetische Philphras, der Dutzenddemokrat amerikanischer Unart neben dem permanenten Nazi mit dem Kruppstahlrückgrat, der Gelegenheitsfaschist neben ausgesprochenen Verbrechernaturen mccarthysanischer Nationalnarrheit" steht?

Den Beiträger Leo Doletzki (also sich selbst) ließ Rühmkorf sterben und widmete ihm ein Epitaph

In einem Brief an seine Mutter formulierte Rühmkorf einen Vorsatz für eine Art Futur II, wonach er sich wünscht, dass es irgendwann heißt, die Zeitschrift habe "die Zeit im Geistigen geprägt". Davon kann aber keine Rede sein, das Programm war zu heroisch, um überhaupt als Programm aufzufallen. Stolz meldete Riegel einem Korrespondenten, "daß Zwischen den Kriegen die einzige zutiefst literarische Zeitschrift Deutschlands ist, daß sie von einer Literatur handelt, die es offiziell überhaupt nicht gibt, und daß man eine literarische Zeitschrift machen kann, ohne von der offiziellen Literatur mehr als nur im Vorbeigehen polemisch Notiz zu nehmen. Dazu: hektographiert, selfmade-magazine, es ist zu schön, um wahr zu sein, und dennoch wahr."

Darum kann Rühmkorf als Insiderscherz den Beiträger Leo Doletzki sterben lassen (also sich) und ihm als Rühmkorf ein Epitaph widmen, das autobiografisch und zugleich klassischer Künstlerbiografenkitsch ist: "Im Grunde wie am Ende war es eine existentielle Revolte gegen alles, was Manier, Eleganz, Urbanität, was Eloquenz und Bescheidenheit war."

Die Literatur, die es offiziell nicht gibt, existiert doch, hektografiert geht sie ins Volk, also an die paar Dutzend Auserwählten, die wenigstens ahnen, wovon die Rede ist. Rühmkorf als Leslie Meier kann sich nicht immer entscheiden, ob er Gottfried Benn nacheifern oder ihn parodieren soll: "Ein Tief über Irland, ein ungesungener Psalter -/Untergang so oder so./Lockert schon die Geliebte den Büstenhalter,/Löse die Strümpfe im dämmernden Indigo." Seit Rilke war die Reimbereicherung durch Fremdworte erlaubt, doch Psalter/Büstenhalter scheint bereits auf den volksvermögenden Mike Krüger vorauszudeuten.

Die Nänien dieser Hamburger Nachtigallen waren alles andere als volksnah

Riegel findet Benn bei einer Lesung in der Hamburger Uni vom Aussehen "unbedeutend" (Rühmkorf erinnert er an Mussolini), doch bleibt er sein Hausgott, dem er schamlos opfert: "Nimm dein Messer vom Bord, schlachte die Schwäne./Wirf den purpurnen Stein in das Spiegelbild./Schlage dein Wasser ab am verwitterten Haupt der Athene,/Ins verwesende Laub, das ihre Augen füllt." Auch im weiteren Angeber-Griechenland geht es nicht ohne Nausikaa und Odysseus, Mona Lisa wird bemüht und der unglückliche Kain, aber dann wieder kann er überraschen, reimt in seiner "Finistischen Introduktion" Leichtmetall auf Nachtigall: "Über dem herben Idyll schwingt sich der weite gefleckte/Himmel aus Leichtmetall./Ich singe Päan, die End- und Verfallsdialekte, /Die Nänien der stygischen Nachtigall." Wer mag, findet hier das Missing Link zum frühen Enzensberger, der 1957 mit seiner "verteidigung der wölfe" bereits wesentlich eleganter und schnittiger debütierte. Der anmerkungsfleißige Herausgeber Martin Kölbel kann belegen, dass der mit Rühmkorf gleichaltrige Enzensberger die Zeitschrift las.

Die Nänien dieser Hamburger Nachtigallen waren alles andere als volksnah, die beiden dichteten entschlossen ohne Geschäftssinn, stefangeorgisch fast, aber statt der Blaetter fuer die Kunst brachten sie (Untertitel) Blätter in die Zeit, später, passender, gegen die Zeit heraus, die so gut wie nichts von ihrem poetisch-politischen Treiben merkte. Immerhin schrieb der nicht wesentlich ältere Dieter Wellershoff, bereits über Benn promoviert, in der Deutschen Studentenzeitung 1953 Rühmendes, Hans Blumenberg rümpfte streng die Nase über die Finisten (SZ vom 8. Februar 2019), aber sonst blieben Zeitschrift wie Finismus unter der Wahrnehmungsschwelle der voranstrebenden Fünfziger. Dann jedoch traf aus London die Postkarte eines erklärten Atheisten ein: "Gottseidank, dass Ihr endlich daseid!" Der Publizist Kurt Hiller, Jahrgang 1885, schrieb ihnen, ein promovierter Jurist, als Jude, Kommunist und bekennender, kämpferischer Homosexueller 1933 in Oranienburg inhaftiert, über Prag nach England geflohen - ein Emigrant erkannte sie.

"Brutal aber scharmant", nannte er die Autoren, lobte ihre Arbeiten als "tausend Eiffeltürme über allem in Neudeutschland". Als leibhaftige Verbindung zur Weltbühne Tucholskys und zum Expressionismus wurde er ihr einziger Mentor. "Lebten über Jahre nur vom Eigenlob und von den begeisternden Hifthornklängen, mit denen Kurt Hiller unsere literarischen Treibjagden von London aus begleitete", seufzte Rühmkorf später in seinen früh vollendeten Memoiren.

Im Sommer 1956 starb Werner Riegel plötzlich, im Alter von erst 31 Jahren

Der Spenglerianer Riegel stand Hillers Idee einer "Logokratie", in der die Intelligenteren über mehr Stimmgewicht verfügen sollten, nicht gar so fern, denn in Zwischen den Kriegen wurde die Verachtung des Gegenwartsangebots mit dem Elitismus der absoluten Außenseiter verknüpft. Die selbstgebastelte Zeitschrift war nicht nur unzeitgemäß, sondern im Rückgriff auf die unbedingte Moderne eines radikalen Expressionismus sogar antimodern. Dort, in der Menschheitsdämmerung des Ersten Weltkriegs, suchten die Kinder des Zweiten Weltkriegs ihre Neigungsväter.

Zum Bespiel Jakob van Hoddis, der in Schülerzeitungsmanier - die bekannte Hamburger Urheberrechtskanzlei, die unter anderem Rühmkorfs Rechte wahrt, gab's damals noch nicht - einfach geklaut wird. Hier muss ein höheres Recht gelten, das der Kunst. Entrissen wird nicht bloß das berühmte Gedicht "Weltende" ("Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut"), sondern es folgt ein Dossier, Erinnerungen von Kurt Hiller und Ludwig Meidner und im Heft darauf weitere Ergänzungen.

Die Enthusiasten zeigen den Fachgermanisten, was diese veruntreuen. Mangels zureichender Gegenwart spiegeln sie sich in dieser edlen Vergangenheit, wenn es in der biografischen Einführung zu Hoddis heißt, "und so waren es nur wenige Freunde, die sich um van Hoddis versammelten, ein Vorgang, der nicht vereinzelt ist, und unser Volk der Dichter und Denker hat sich dessen noch nie geschämt".

Für seine Rückkehr nach Deutschland suchte Kurt Hiller Bundesbrüder und drängte seine Finisten deshalb zum Verlassen der Literaturklause und in den politischen Aktionismus. Rühmkorfs "Genieprosa" erkennt er an, beklagt aber dessen "spießbürgerlich-laotseanisch-passivistisch-konservatives Zyniker-ICH". An guten Tagen vergleicht er ihn mit Lessing und Lichtenberg und nennt ihn, was für ein Lob!, den "Einzigen, der denkerisch und künstlerisch anknüpft an den geistigen Tatbestand vom 30ten Januar 1933, morgens" und erkennt früh, dass der Dichter Rühmkorf dem gleichnamigen Polemiker unterlegen ist: "Ich hoffe, er hängt die Lyra ins Spind und nimmt sie nur noch bei (subjektiv) extrawichtigen Anlässen heraus, um sie zu schlagen; während er die Prosa-Orgel fortan sozusagen täglich bedient." Von der eigenen heroischen Dichterjugend, als sie, "auf der Höhe unserer geistigen Zerfaserungen", brüderlich vereint gegen alle anderen standen, fand Rühmkorf in Hillers Memoiren nichts mehr wieder; der Lehrer strafte ihn durch Nichterwähnung.

Der Antikommunist Hiller setzt dafür ausgerechnet auf Klaus Rainer Röhl, der mit den Mitarbeitern Rühmkorf und Riegel 1955 den Studentenkurier startet, das spätere konkret, und dafür früh heimlich mit den Kommunisten der DDR anbändelte, weil ihm das Geld doch näher war als jede Überzeugung.

Im Sommer 1956 starb Werner Riegel plötzlich im Alter von erst 31 Jahren und wurde in diesem Drei-Dichter-Todesjahr von keinem Geringeren als Arno Schmidt einer Elegie gewürdigt: "Wehe die wankenden Reihen des Geistes! :/Brecht stirbt; Benn ist tot; macht ein Kreuz hinter Riegel." Mit ihm starb sein unbekanntes Meisterwerk Zwischen den Kriegen, deren "Folgenlosigkeit selbstverständlich ist", wie er dichterstolz erklärte. Sie braucht auch keine Folgen zu haben, aber was für ein Glück, dass die Zeitschrift aus dem Archiv gerettet wurde und jetzt fremd und herrlich wie ein Meteoritenstein vor dem nachgeborenen Leser liegt, der sie an die geneigte Leserin gelehnt staunend durchblättern wird.

Zwischen den Kriegen. Blätter gegen die Zeit . Eine Zeitschrift von Werner Riegel und Peter Rühmkorf. Herausgegeben von Martin Kölbel. Wallstein V erlag, Göttingen 2019. 626 Seiten, 50 Euro.

© SZ vom 07.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: