Aus dem Pop-Archiv:"Scarlet" von den Rolling Stones

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Der Stones-Schlagzeuger mit seiner Band: Charlie Watts (zweiter von links), mit Keith Richards, Mick Taylor und Bill Wyman (v.l.). Ganz vorne: sein Sänger, Mick Jagger. (Foto: ZUMA Press/imago)

Von Willi Winkler

Mitten in diesem Sommer des größten Missvergnügens erklang aus den Lautsprechern des Vereinigten Königreichs ein rarer Götterfunken: Zwei Gitarren arbeiteten sich durch die Membranen, so jugendfrisch und kräftig, wie es auch England einst gewesen ist, als es noch die Welt eroberte. Die gute alte BBC brachte als Premiere den Song "Scarlet" der Rolling Stones, vor 46 Jahren aufgenommen und dann vergessen.

Der Text ist banal, ein bisschen frauenfeindlich, ein bisschen Anmache, typisch Mick Jagger, aber mit bluesiger Inbrunst vorgetragen. Die Sensation ist der zweite Gitarrist, der sich an Keith Richards vorbei nach vorne spielt: Es ist Jimmy Page, 1974 selbst weltberühmt als Led Zeppelins Lead-Gitarrist an der doppelhalsigen Gibson, der sich hier aber in den Dienst der bereits alternden Stones stellt. Die haben es immer verstanden, Virtuosen zum Mitspielen einzuladen, sie also in aller Freundschaft auszubeuten. Immerhin: Einigen, wie Ry Cooder und Gram Parsons, wird auf dem Cover von "Metamorphosis" (1975) summarisch dafür ein bisschen gedankt.

"Scarlet" ist anders. Ein nur dreiviertelfertiges Stück, das nach Abschluss des Albums "Goats Head Soup" (1973) zum Aufwärmen bei den Proben diente. Die Band hatte gerade ihren Wundermann Mick Taylor verloren und suchte einen neuen Begleiter für Keith Richards. Unter anderem spielten Jeff Beck und Rory Gallagher vor, doch am Ende sollte es Ron Wood werden, der noch heute dabei ist. Jimmy Page kam bei aller Liebe nicht in Frage, er war mit Robert Plant und Led Zeppelin sein eigener Herr. Bei "Scarlet" lässt sich aber hören, wie Keith und er harmonieren, dissoziieren, sich gegenseitig anrempeln, überholen und überbieten - bei allem Rock'n'Roll-Lärm ein fast kammermusikalisches Ereignis.

Der Song ist bereits auf Youtube veröffentlicht und soll im September als Teil einer Neufassung von "Goats Head Soup" erscheinen. Und das macht ja doch Hoffnung: Solange es sich die Rolling Stones und ein Weltmeister wie Jimmy Page leisten können, ein derart elegant hingeschlenztes Stück fast ein halbes Jahrhundert in der Schatzkiste zu lassen, ist England noch nicht ganz verloren.

© SZ vom 25.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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