Aus dem Flämischen:Labyrinthe des Unwissens

Lesezeit: 3 Min.

Jonathan Robijns "Kongo Blues" führt ins finstere Herz des belgischen Kolonialismus.

Von Alex Rühle

Morgan ist irgendwie schief ins Leben gebaut. Kaum Freunde. Eine winzige Bude. Er arbeitet als Jazzpianist in Brüssel. Fotos rund um sein Klavier künden davon, dass er früher wohl erfolgreich in ganz Europa unterwegs war, heute hat er nur noch selten Auftritte. Ein Einzelgänger, stoisch. Oder ist er traumatisiert?

In der kalten Silvesternacht des Jahres 1988 liest er vor seiner Tür eine tief schlafende Frau in einem Abendkleid auf und trägt sie zu sich nach Hause. Ihr fällt im Schlaf ein Umschlag aus der Tasche, in dem eine Million Francs stecken. Ein paar Tage später steht sie mit ihrem Koffer vor seiner Tür, angeblich sind alle Hotels in Brüssel ausgebucht. Sie müsse was klären, sagt sie, in einem Ministerium, ob sie eine Weile bleiben könne.

Morgan, Mitte dreißig, verliebt sich in die geheimnisvolle Frau, die behauptet, sie heiße Simona, und sich wie selbstverständlich in seinem Alltag einrichtet. Seinen Fragen weicht sie so elegant aus wie eine Slalomfahrerin den Stangen auf einer Piste. So erfährt er nur wenig von ihr: Tochter eines belgischen Ingenieurs, der angeblich früher in Zaire das Eisenbahnnetz mit ausgebaut hat. Anscheinend war er auch ein Freund des Diktators Mobutu. Viel mehr wird Morgan nicht aus ihr rausbekommen.

Illustration: Alper Özer (Foto: N/A)

Umgekehrt würde er ihr gern erzählen, wer er ist, er weiß es nur selber nicht. Er erinnert sich noch, dass er als Kind mit einem Flugzeug nach Brüssel kam. Dass er dann adoptiert wurde von einem distinguierten Ehepaar, das ihm später erzählte, seine Eltern seien bei einer Epidemie gestorben, die sein Heimatdorf ausgelöscht habe. Die einzige Erinnerung aus seiner frühen Kindheit versteckt sich in einem wiederkehrenden Traum: ein Sandweg, eine Brücke, der Geruch eines schwelenden Holzfeuers ...

Morgan staunt über sich, darüber dass er Simona all das von sich preisgibt. "Vielleicht lag es daran, dass sie aus Afrika kam, vielleicht dachte er deshalb, sie könne ihn begreifen, obwohl ihre Haut weiß war." In diesem Satz, wir sind schon auf Seite 38, erfährt man erstmals und auch nur ex negativo, dass Morgan Schwarzer ist. Naja, sagen wir mal: kein Weißer.

Was es bedeutet, nicht zu wissen, wo man herkommt und nirgends zu Hause zu sein

Wer diese Beilage liest auf der Suche nach waschechten Krimis, mit Leichen, Verbrechen, Motiven, Spurensicherung und der kleinen Kinderpuzzlebefriedigung, mit der einen so viele Krimis am Ende abspeisen, x war's und zwar weil y, der sollte hier abbrechen. Jonathan Robijn hat ein großartiges, leises Buch geschrieben. Aber einen Krimi? Vielleicht hatte der Nautilus-Verlag Angst, dass "Kongo Blues" hierzulande untergeht (wer interessiert sich schon für das dunkle Erbe der belgischen Kolonialzeit), und hat das Ganze deshalb als "Kriminalroman" gelabelt. In Belgien erschien das Buch jedenfalls schlicht als "Roman".

Wie auch immer: Robijns Buch erzählt sehr eindrücklich, was es bedeutet, nicht zu wissen, wo man herkommt. Wie es sich anfühlt, wenn man nirgends zu Hause ist. Welche Lücke da im Inneren klafft, die nie selbst definiert, sondern immer nur durch den Schmerz der schlecht vernarbten Ränder umschrieben werden kann. Robijn, der Soziologie und Psychologie studiert und lange Jahre für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet hat, hörte während seiner Zeit im Kongo immer wieder von katholischen Waisenhäusern, in die Kinder verbracht worden waren, die eine schwarze Mutter und einen weißen Vater hatten. Im erzrassistischen Belgisch-Kongo, das streng auf Segregation aufgebaut war, wurden Mischlingskinder ihren schwarzen Müttern oftmals weggenommen - man war überzeugt, dass Schwarze nicht dazu in der Lage seien, Kinder mit europäischen Wurzeln großzuziehen.

Als der Kongo 1960 unabhängig wurde, wurden all diese Kinder aus den katholischen Waisenhäusern nach Belgien "evakuiert", so als müsste man sie aus einem Katastrophengebiet herausholen. Oder wie es ein so honoriger wie rassistischer Bürgermeister Morgan gegen Ende des Buches mit der allergrößten Selbstverständlichkeit erklärt: "Man musste ja vermeiden, dass die belgischen Gene verwildern, sobald die Zivilisation wieder verschwand." Diese Kinder, die schon einmal ihren Müttern weggenommen worden waren, wurden dann in Belgien an Pflegefamilien vermittelt oder wiederum in Waisenhäuser gesteckt, ohne dass ihnen je erzählt worden wäre, woher sie wirklich kamen. Erst 2017 gelang es ihnen, das Recht zu erstreiten, in Archiven nach ihrer Herkunft suchen zu dürfen. Der juristische und politische Streit um den skandalösen Umgang mit diesen Menschen, die mittlerweile zwischen sechzig und siebzig Jahren alt sind, bildet den Hintergrund für Robijns Buch. In der deutschen Übersetzung hätte man ihn auf zwei, drei Seiten erklären sollen.

Robijn erzählt nicht von der Warte eines auktorial kommentierenden, ergänzenden Erzählers aus, sondern folgt Morgan durch das Labyrinth seines Unwissens. Was will Simona wirklich von ihm? War es tatsächlich Zufall, dass sie in der Silvesternacht vor seiner Tür lag? Und ihr seltsamer Bekannter Walther, der ihm plötzlich Auftritte anbietet, ein roher Erfolgsmensch - woher hat er seinen Reichtum?

Man ahnt, dass es eine enge Beziehung zwischen diesen drei Hauptfiguren gibt und dass die beiden kosmopolitisch-souveränen "Weißen" Profiteure uralter Raubbaustrukturen sind. Es ist beeindruckend, wie gekonnt Robijn verschiedene Milieusprachen und kulturelle Codes skizziert. Die Gespräche der Expats, der ehemaligen Kolonialfamilien, muss er nicht kommentieren, damit man merkt, dass darunter Verdrängtes liegt, Verachtung, Schuld, die noch die Erben der dritten Generation wunderbar reich macht. Vor allem aber ist Robijn mit Morgan ein beeindruckender Charakter gelungen, ein Opfer der Geschichte und des Schweigens, über den alle anderen Beteiligten mehr zu wissen scheinen als er selber.

© SZ vom 18.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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