Volker Herres, 52, ist gelernter Journalist und als ARD-Programmdirektor so etwas wie ein freischwebender Künstler des öffentlich-rechtlichen Verbunds. Mit einem Marktanteil von 12,7 Prozent im Jahr 2009 knapp Erster geworden, verlor aber 0,7 Punkte. RTL gewann und liegt nun zusammen mit dem ZDF mit je 12,5 Prozent auf Rang zwei. Herres war zuvor im NDR Programmdirektor gewesen und ist als Moderator des "Presseclubs" aktiv.
sueddeutsche.de: Herr Herres, im November 2008 haben Sie als ARD-Programmdirektor begonnen. Das erste volle Jahr im neuen Amt liegt hinter Ihnen. Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?
Volker Herres: Ich denke, das ein oder andere erreicht zu haben. Aber: Ein Fernsehprogramm zu gestalten, ist eine tägliche Herausforderung mit immer neuen Aufgabenstellungen. Das ist das Schöne und zugleich das Schwierige daran. Ein Erfolg war sicherlich, dass es uns gleich zu Beginn meiner Amtszeit gelang, die Fußball-Bundesligarechte für die ARD weiter zu sichern. Unsere "Sportschau am Samstag" ist im Prinzip genau so erfolgreich wie vorher, obwohl der Spielplan abends ein Livespiel im Pay-TV vorsieht.
sueddeutsche.de: Was macht das Jahr 2009 aus ARD-Sicht zum Erfolg - trotz insgesamt fallender Marktanteile?
Herres: Es war ein Jahr ohne große Spitzensportereignisse, mit Ausnahme der Leichtathletik-WM in Berlin. Trotzdem liegt die ARD qualitativ und quantitativ weiter vorn, das finde ich schon mal gut. Insgesamt war es für alle Vollprogramme ein schwieriges Jahr. Das ZDF tut sich schwer, RTL erst in jüngster Zeit nicht mehr.
sueddeutsche.de: In den Monaten September, Oktober und November holte sich RTL sogar die Marktführerschaft von der ARD zurück. Schmerzt Sie das?
Herres: Wir haben immer eine doppelte Zielsetzung. Natürlich wollen wir bei den Quoten so weit wie möglich vorn sein, aber es ist nicht egal womit. Wir haben einen Auftrag: Unser Programm muss sich an qualitativen Maßstäben messen lassen. RTL schafft sehr gute Ratings mit Sendungen, die wir so nie machen würden. Schauen Sie sich die Nachmittagsprogramme an, mit all den Verdachtsfällen und den Familien im Brennpunkt. Da muss ich an das zwar derbe, aber treffende Bonmot des Kabarettisten Dieter Nuhr denken: "Asis spielen Asis für Asis".
sueddeutsche.de: Auch am Montagabend läuft der Privatsender RTL dem Ersten den Rang ab.
Herres: Da läuft das Quiz "Wer wird Millionär?" mit Günther Jauch und anschließend "Bauer sucht Frau" - eine Show in der Scripted-Reality-Welt mit einem sehr prekären Charme. Dagegen tun sich unsere Dokumentationen um 21 Uhr nun mal schwer. Auch unsere Serie "Geld.Macht.Liebe" hat um 20.15 Uhr die Erwartungen leider nicht erfüllt.
sueddeutsche.de: Also müssten Sie einfach "Land und Liebe" - eine ARD-Version der Bauern-Kuppelshow, die nach wie vor im NDR läuft - im Ersten lancieren.
Herres: Das ist ja eine sehr öffentlich-rechtliche und auch sehr gelungene Sendung, die gegen die härtere Version von RTL keine Chance hätte. Nein, ich will ja journalistische Programme haben. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, Dokumentationen in der Primetime wettbewerbsfähig zu machen.
sueddeutsche.de: Wie soll das gelingen?
Herres: Derzeit wird der Montagsplatz journalistisch aktuell bespielt. Wir haben dort gute, aktuelle Themen gehabt, wie Opel in der Krise, der Fall Demjanjuk und ähnliches. Nur die Zuschauer-Akzeptanz war sehr zurückhaltend. Also überlegen wir, auf andere Stoffe zu setzen, wie zum Beispiel Historisches. Der Sendeplatz am Montag um 21 Uhr ist offenbar mit Dokumentationen nur sehr schwer erfolgreich zu bespielen, weil gerade am Montagabend viele Menschen sich beim Fernsehen vor allem entspannen möchten.
sueddeutsche.de: Welcher Tag ist besser?
Herres: Jeder danach bis auf den Freitag, der gehört im Empfinden der Zuschauer schon zum Wochenende.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Volker Herres kein Interesse an Johannes B. Kerner hat.
sueddeutsche.de: Richtig nach vorn käme die ARD mit einem prominenten Neuzugang. Immer öfter taucht Günther Jauch im ARD-Programm auf. Er erklärt bei "Anne Will" die Wahl, bei "Beckmann" die digitale Welt und in dem von Ihnen moderierten "Presseclub" das Jahr 2009.
Herres: Als Gast ist er gern gesehen.
sueddeutsche.de: Nicht als Moderator? Schon vor drei Jahren bot die ARD ihm einen Vertrag für die Sonntags-Talkshow. Mit seinen 53 Jahren wächst Jauch langsam aus dem Privatfernsehen heraus.
Herres: Er ist ein sehr beliebter Moderator und ein sehr kompetenter Journalist. Er hat diesen Beruf ja mal gelernt. Aber ich bemühe mich nicht, Herrn Jauch zu holen.
sueddeutsche.de: Eine Ihrer Grundaussagen lautet, dass Fernsehen über bekannte Gesichter erfolgreich sei. Hat die ARD überhaupt genügend bekannte Gesichter?
Herres: Sehr viele sogar, da brauchen Sie nur durch die Woche gehen. Montag: Reinhold Beckmann, Dienstag: Sandra Maischberger, Mittwoch: Frank Plasberg, Donnerstag: Harald Schmidt, Samstag: Gerhard Delling, Reinhold Beckmann in der "Sportschau", Florian Silbereisen in der Unterhaltung, Sonntag: Anne Will und dann die "Tagesthemen"-Moderatoren Caren Miosga und Tom Buhrow und so weiter. Also reichlich.
sueddeutsche.de: Es fehlt beispielsweise jemand für die Unterhaltung. Die bisherige Allzweckwaffe Jörg Pilawa geht zum ZDF. Und Sie selbst hatten einst verkündet: "Pilawa, Pilawa, Pilawa, das ist unser großer Unterhaltungsstar!"
Herres: Wir werden Jörg Pilawa nicht durch eine Person ersetzen, sondern uns bei der Unterhaltung breiter aufstellen. Von Frühjahr an ersetzt Guido Cantz bei "Verstehen Sie Spaß?" den Moderator Frank Elstner und am Vorabend spielt Florian Weber im Bereich Spielshow eine gute Rolle. Und schließlich hat die ARD mit Frank Plasberg jemanden, der große Erfolge in der informationsorientierten Unterhaltung hat. Einen Jahresrückblick oder das "Quiz der Deutschen" macht er hervorragend.
sueddeutsche.de: Pilawa hat gleich mehrere Formate wegmoderiert. Hat sich die ARD für die Unterhaltung um Johannes B. Kerner bemüht?
Herres: Nein, der ist meines Wissens zu Sat1 gegangen ...
sueddeutsche.de: ... und dort nicht sehr erfolgreich. Ihn könnte man perspektivisch zur ARD holen.
Herres: Ich sehe ihn gerne bei Sat1. Ich möchte den Sender nicht schwächen.
sueddeutsche.de: Zu den bekannten ARD-Gesichtern gehörte neben Pilawa auch die Sportmoderatorin Monica Lierhaus, die aufgrund einer schweren Erkrankung seit Langem ausfällt. Noch ein Verlust.
Herres: Dazu gibt es keine öffentlichen Erklärungen, weil ich ihre Privatsphäre respektiere und gleichzeitig gilt, dass die ARD für Frau Lierhaus, wenn sie wieder arbeiten möchte, offen ist. Sie hat bei uns an prominenter Stelle gearbeitet. Diese Stelle ist jederzeit wieder für sie da.
sueddeutsche.de: Auch Günter Netzer hört nach der WM als Co-Kommentator auf.
Herres: Das bedauere ich sehr.
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sueddeutsche.de: Wird sein Partner Gerhard Delling eine andere journalistische Begleitung bekommen?
Herres: Schau'n wir mal. Wir haben mit Mehmet Scholl einen zweiten exzellenten Fußball-Experten. Ihn sehe ich, wenn er denn mag, gerne weiter bei uns.
sueddeutsche.de: Reinhold Beckmann hat gerade verlängert - gibt es für ihn erweiterte Möglichkeiten?
Herres: Sein Kerngeschäft ist Sport, Bundesliga und natürlich sein Regelformat am Montag. Darüber hinaus wird er weiter bei Einzel-Ereignissen präsent sein. Er hat eine sehr breite Palette an Fähigkeiten.
sueddeutsche.de: Immerhin wird, bei allen Unsicherheiten rund um prominente Moderatoren, der Vertrag von Anne Will um zwei Jahre bis Herbst 2012 verlängert. Ist das ein Akt der Absicherung?
Herres: Über Verträge spreche ich grundsätzlich nicht in der Öffentlichkeit. Anne Will macht einen sehr guten Job in der ARD und es gibt überhaupt keinen Grund, hier etwas zu ändern. Mit ihr und Frank Plasberg hat "Das Erste" zwei, in der Chefredaktion angesiedelte politische Gesprächsformate, die beide sehr erfolgreich sind. Wenn man genau hinsieht, haben wir sogar vier politische Gesprächspartner, weil man Beckmann und Maischberger ja nicht als unpolitisch bezeichnen kann....
sueddeutsche.de: ...semi-politisch wäre wohl angebrachter.
Herres: Sie führen jedenfalls substanzielle Gespräche mit Politikern.
sueddeutsche.de: Ihr Vorgänger Günter Struve hat immer gesagt, er wolle "Frauenfilme". Wollen Sie das auch?
Herres: Wir haben viele frauenaffine Programme, die sehr erfolgreich sind, und die ich auch will. Das betrifft beispielsweise den Freitagabendfilm und die Serien am Dienstag. Aber jeder Mann, der zuschaut, ist mir auch recht.
sueddeutsche.de: Von welchen Sendungen erhoffen Sie sich 2010 große Resonanz?
Herres: Wir haben eine Fülle herausragender fiktionaler Geschichten. Das fängt schon im Januar an mit Dieter Wedels Zwei-Teiler "Gier", dann kommt zu Ostern die Mankell-Verfilmung "Kennedys Hirn", dann "Der letzte Patriarch" mit Mario Adorf und "Gottes mächtige Dienerin" mit Christine Neubauer. Fiktional und im Sport - mit der Weltmeisterschaft in Südafrika und Olympia in Vancouver - wird das ein starkes Jahr. Wir werden diese Ereignisse journalistisch begleiten.
sueddeutsche.de: Zu Beginn Ihrer Amtszeit nannten Sie "Verjüngung" als großes Ziel. Offenbar ist die ARD nicht viel weiter gekommen. Das Durchschnittsalter liegt nach wie vor bei 61 Jahren.
Herres: Das Erste, ein nationales Volksprogramm, kann man nie zu einem jungen Programm machen. Das wäre illusorisch: Das Erste kann nicht jünger sein als die Gesellschaft, wenn es alle erreichen will. Und unsere Gesellschaft ist verdammt in die Jahre gekommen, wobei niemand soviel fernsieht wie die Älteren. Und deshalb sagt das Durchschnittsalter als Mittelwert doch gar nicht viel aus. Interessanter ist zu sehen, wo wir nennenswerte Teilmengen von jungen Leuten, also der Unter-49-Jährigen, anziehen. Das gelingt etwa im Fiktionalen, bei der "Tagesschau" um 20 Uhr und im Sport.
sueddeutsche.de: Was insgesamt nicht ausreicht, "jünger" zu werden.
Herres: Verjüngung ist auch eine Frage der Positionierung unserer Marke. Da setzen wir Akzente etwa mit dem "Echo", der erstmals wieder im Ersten war, oder mit dem "Eurovision Song Contest", bei dem wir künftig mit Stefan Raab kooperieren. Sicher, kann man hier noch mehr machen.
sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?
Herres: Nötig ist in der ARD eine Gesamtstrategie für den Konzern. Da muss noch mehr geschehen, Das Erste kann die Antwort nicht alleine geben. Das muss flankiert werden durch Programme wie den Digitalkanal EinsFestival und unseren Online-Auftritt.
sueddeutsche.de: Wo finden sich denn außer der Kooperation mit Stefan Raab Neuerungen, die geeignet sind, Junge stärker an das Erste zu binden?
Herres: Ich bin kein Freund von vielen Neuerungen. Das Erste lebt davon, dass es eingeführte starke Marken hat. Das ist unsere größte Stärke. Bei "Tagesschau" und "Tagesthemen", bei "Tatort", "Sturm der Liebe", "Rote Rosen" oder "Lindenstraße", um nur einige zu nennen, müsste man ja zum Wahnsinn neigen, wenn man die Marke aufgeben würde. Das läuft und läuft und läuft besser als einst jeder VW Käfer.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der Tatort der Idealfall der ARD ist.
sueddeutsche.de: Ist das alles nicht ein wenig strukturkonservativ?
Herres: Der Tag hat ja nur 24 Stunden. Wenn man Neues macht, muss man sich immer überlegen, was dafür wegfällt. Wenn etwas nicht läuft - wie "Eine für alle" - handeln wir.
sueddeutsche.de: Das ZDF scheint derzeit insgesamt etwas mutiger. Es hat im Digitalfernsehen den Sender Neo für jüngeres Publikum gestartet - wie sieht die Digitalstrategie der ARD aus? Wo sind da die großen Impulse?
Herres: Das ZDF hat bei Neo richtig Geld in die Hand genommen, das können wir derzeit nicht. Wir werden unsere Digitalkanäle stärker strukturieren, so wie wir es mit EinsExtra längst getan haben. Das ist mittlerweile ein sehr tagesaktuelles Informationsprogramm mit hoher Nachrichtenaffinität geworden. EinsFestival richtet sich dagegen an ein dezidiert jüngeres Publikum - in erster Linie über das Repertoire und mit einigen Eigenproduktionen.
Diesen Charakter wird man noch deutlicher herausarbeiten, aber nicht mit einem Paukenschlag, wie es das ZDF bei Neo getan hat. Die ARD als föderaler Verbund tut sich natürlich auch bei einer Online-Strategie schwerer als ein zentrales Unternehmen, weil ja die einzelnen Landesrundfunkanstalten zu ihren Programmen ergänzende Online-Angebote brauchen. Dennoch: Das Gesamtangebot braucht Stringenz.
sueddeutsche.de: Der "Tatort" ist eine der großen Marken der ARD - aber jeder weiß, jeweils eine andere ARD-Anstalt tritt hier als Absender auf. Warum kann es nicht ein ähnliches Modell bei den politischen Magazinen geben? Also mit einer einheitlichen Marke für "Report", "Monitor", "Panorama" und die anderen?
Herres: Der "Tatort" ist der Idealfall der ARD. Das ist ein Synonym für Krimi, regional verortet und verwurzelt. Nur: Der "Tatort" startete vor knapp 40 Jahren - und war immer "Tatort". Die politischen Magazine sind dagegen als eigenständige Marken eingeführt worden. Das war zunächst kein Problem, wir hatten ja ein Oligopol aus ARD und später ZDF. Jetzt haben wir die Vorteilsschwäche, sechs Magazine zu haben, was man so heute nicht mehr erfinden würde. Im Moment kann ich nicht erkennen, dass die Landesrundfunkanstalten sich von ihren starken Marken verabschieden wollen. Darüber kann man trefflich streiten.
sueddeutsche.de: Und wie ist Ihre Position?
Herres: Ich bin für einen einheitlichen Markenauftritt. Aber derzeit bleibt alles beim Alten.
sueddeutsche.de: Weil Sie sich gegen die Intendanten nicht durchgesetzt haben?
Herres: Nein, das sollte man niemandem oktroyieren. Hier muss man die Redaktionen mitnehmen - das ist keine Durchsetzungsfrage, sondern eine Überzeugungsfrage. Die Magazine sind ja erfolgreich. Das ist eher eine Marketingdebatte.
sueddeutsche.de: Herr Herres, worauf sind Sie denn wirklich stolz in der ARD?
Herres: Das Erste hat erstklassige Werte. Wir hatten 2009 ein hervorragendes Wahljahr - die Menschen haben sich überwiegend in den Öffentlich-Rechtlichen informiert. Und die ARD hat bei Event-Programmierungen erfolgreich Fiktion und Journalismus kombiniert, so wie bei "Mogadischu" oder dem Zwei-Teiler über die RAF. Das werden wir weiter verstärken.
sueddeutsche.de: Bei den Wahlen ist das Öffentlich-Rechtliche so erfolgreich, dass sich auch die Politik sehr für Machtpositionen in den Sendern interessiert - und im ZDF eine neue Chefredaktion installierte. Erfüllt Sie das mit Sorge?
Herres: Das hat dem Ansehen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geschadet, das ist doch evident. Es ist schon verdammt wichtig, dass dieses System in großer Unabhängigkeit arbeitet - was es im Normalfall tut.
sueddeutsche.de: Der herausgedrängte ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender könnte ja eine Sendung in der ARD bekommen.
Herres (lacht): Er ist meine Geheimwaffe für die Nachfolge Pilawas.