Weder ihren alten Liedern noch den Institutionen und schon gar nicht ihren Eliten verdanken die Deutschen ihre Entnazifizierung - sondern der populären Musik. Das fing mit dem Jazz an und war schon bald nicht mehr darauf, und die begleitenden Lebensformen, allein beschränkt. Für die Ausbreitung zu einem weiten Spektrum, das von Free Jazz zu Country und Blues, von Folk zu Funk, von Gospel zu Soul und von den Rolling Stones und Bob Dylan zu Nana Mouskouri und Peter Maffay reichte, stand die legendäre Frankfurter Konzertagentur Lippmann & Rau.
Die Geschichte dieses Unternehmens, auf dessen Konto die Erfindung eines musikalischen Wanderzirkus ging, der mit Mega- und Open-Air-Konzerten seither über den Globus tingelt, reicht zurück in ein dunkles Frankfurter Kellerloch namens "Hot Club", in dem auf den Instrumenten des Jazz schon während des Dritten Reichs Resilienz erprobt wurde.
Ähnliche Phänomene, die sich unter dem SED-Regime des Ostens erneut verstärkten und auch dort wieder die Halblegalität zwielichtiger Kellerlöcher bevorzugten, fanden sich in der Thüringer Landschaft: vor allem in Horst Lippmanns Geburtsort Eisenach zu Füßen der Wartburg, Ort uralter Sängerfeste. Nicht weit auch von Eisenach, in Buchenwald, war Lippmanns Co-Jazzer Günter Boas seit 1943 für seine Musikleidenschaft interniert. Und am Stadtrand von Eisenach, im Keller einer stillgelegten Malzkaffeefabrik, nahm 1959 ein lokaler Jazzclub den Konzertbetrieb auf.
An diesem Ort hat heute die "Lippmann & Rau-Stiftung" ihren Sitz und unterhält in Kooperation mit der Stadt und der Weimarer Hochschule für Musik "Franz Liszt" ein internationales Archiv für Jazz und populäre Musik, dessen Nukleus der Nachlass von Günter Boas ist. An diesem Wochenende hatte es Musik- und Kulturwissenschaftler, Musikjournalisten und die Leiter mehrerer deutscher Musikarchive zu einer Tagung über "Populäre Musik als kulturelles Gedächtnis" in seine Räume eingeladen.
Von den ebenso gast- wie benutzerfreundlichen Räumen dieses Archivs muss zuerst die Rede sein: Anders als das Innenleben von Archiven zumeist beschaffen ist, sind die vorhandenen Nachlässe und die schon zu Lebzeiten ihrer Besitzer gestifteten Sammlungen hier zu Inseln gruppiert, in denen zusammenbleibt, was zusammengehört, die Objekte - Tonträger, Alben, Bücher, Plakate, Schriften, Magazine, Instrumente und andere Memorabilia - nicht auseinandergerissen und in getrennten Schubladen verwahrt werden.
Nichts ist in diesem Archiv aus seinem potenziell lebendigen Verkehr entzogen, und so steht als Blickfang der von Fritz Rau gestifteten Sammlung vor einer breiten Regalwand mit LPs das Prachtstück einer Jukebox der Marke "The real Wurlitzer". Ihr Inventar birgt als persönlicher Kanon des Besitzers selbst ein kleines Privatarchiv - es reicht von Nummer 001, Sandie Shaws "Puppet on a String" bis Nummer 907, Chuck Berrys "Johnny B. Goode", und auch die Kinks sind dabei.
Populäre Musik als kulturelles Gedächtnis
"Monumente", schon gar keine solchen, die sich - wie Nils Grosch, der Leiter des Deutschen Volksliedarchivs, sagte - zu identitätsstiftenden Nationaldenkmälern im Sinne des Konstrukts eines "kulturellen Gedächtnisses" qualifizieren, sind die hier gesammelten Objekte freilich nicht; dem herkömmlichen, auf Aussonderung bedachten Archivgedanken stehen sie eher rebellisch und sperrig gegenüber.
Identitätsstiftend aber sind sie schon: Der Musikwissenschaftler Nico Thom präsentierte das verzweigte Spektrum möglicher Kanonbildungen innerhalb der populären Musik mit so auffällig generationsübergreifenden Phänomenen wie den geschlossenen Riegen von Beatles-Fans im Alter von sieben bis siebenundsiebzig Jahren. Als Vehikel agieren hier oftmals hochspezialisierte Fanmagazine, die Fans aus anderen Stämmen möglicherweise überhaupt nie zu sehen bekommen. Um so mehr sind sie sinnvolle Sammelaufgabe von Archiven, deren Bestände sich nicht auf Tonträger allein reduzieren lassen. Im Grunde sammelt das Archiv der populären Musik all das, was die herkömmlichen Archive als Agenten der Hochkultur aussondern, wenn nicht ausmisten.
Und dennoch ist die populäre Musik in Archiven, Bibliotheken und in den Institutionen der Wissenschaft angekommen: Martin Pfleiderer, Weimarer Lehrstuhlinhaber für die Geschichte des Jazz und der populären Musik, schilderte die in den neunziger Jahren einsetzende Invasion und gab ein Bild von methodischen Auseinandersetzungen, die altbekannte akademische Grabenkämpfe um das Primat des Zeichens oder des Symbols, des Soziologischen oder des Ästhetischen auch hier wieder erneuern, während Pfleiderer selbst für die kombinierte Perspektive plädierte.
Ein "kulturelles Backup"
Das Einzigartige eines Archivs, wie es hier entsteht, ist - als "kulturelles Backup", wie der Musikjournalist Peter Schulze sagte - die physische Präsenz seiner Objekte. Sie strebt zwar nach der Digitalisierung der Such- und Zugangsmöglichkeit - auf diesem Gebiet wollen das Eisenacher Archiv, das Darmstädter Jazzinstitut und das Bremer "Klaus Kuhnke Archiv für Populäre Musik" künftig zusammenarbeiten und sich vernetzen -, ohne aber in einer digitalen und virtuellen Welt aufzugehen.
Künftigen Benutzern, die aus der analogen Welt zuvor ausgetreten sind, dürften hier von einer Art "Stendhal-Syndrom" erfasst werden, wenn es ihnen nämlich schwindelig wird ob der Fülle von Geschichten, die hier räumlich, aber auch in mehreren zeitlichen Dimensionen sichtbar, hörbar und zum Anfassen zusammenlaufen.
Siegfried Schmidt-Joos, der Altmeister der Musikpublizistik und Rockenzyklopädik, brachte es in seinem Vortrag über die Musik als einer Zeitmaschine mit den Schlussworten aus "I'm Not There", dem etwas enigmatischen Film über Bob Dylan, zum Ausdruck: "Es ist, als wären Gestern, Heute und Morgen alle zusammen in einem Zimmer. Da weiß man nie, was passiert." Gut so.