Judenhass:Antisemitismus im Internet wächst dramatisch

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Tausende Texte reproduzieren täglich die stereotype Verächtlichmachung der Juden und der Angehörigen jüdischen Glaubens, dazu israelbezogene Verschwörungstheorien (Symbolbild). (Foto: dpa/Bearbeitung: SZ.de)
  • Die Langzeitstudie "Antisemitismus 2.0." hat erforscht, wie sich der Judenhass im Internet entwickelt hat.
  • Das Ergebnis: In den vergangenen zehn Jahren wurden ein exorbitanter Anstieg sowie eine Intensivierung und Radikalisierung von Antisemitismen registriert.
  • Die Studie hat insgesamt 66 374 Webseiten samt ihrer Kommentarspalten gespeichert und analysiert.

Von Bernd Graff

Das Fazit der gerade veröffentlichten Studie "Antisemitismus 2.0" ist niederschmetternd. Die Untersuchung ist aber auch deswegen so frappierend, weil man gar nicht mehr einschätzen kann, welches ihrer Ergebnisse nun am heftigsten frappiert und vor den Kopf stößt: Ist es die ungeheure Zahl an verbalen Übergriffen, die in Deutschland täglich als sogenannte "Kommentare" in die Nutzerforen schwemmen? Ist es deren dramatisches Anwachsen in den letzten Jahren, ein Anwachsen, das offen schäumenden Hass offenbar zur rhetorisch akzeptierten Umgangsform hat werden lassen? Ist es die schamlose, ungefilterte Ausgesprochenheit dieser Äußerungen? Oder ist es doch deren einfach nur noch deprimierende Folgenlosigkeit? Diese von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vier Jahre lang geförderte Langzeitstudie zur Netzunkultur des Judenhasses legt tatsächlich so viele traurige Details in ihren Ergebnissen offen, dass man nicht mehr umhin kommt, von einem ubiquitären und anscheinend inzwischen gesellschaftlich breit tolerierten Alltagsantisemitismus in den deutschsprachigen Sozialen Medien zu sprechen. Ein Extremismus dazu mit stark wachsender Tendenz.

Entwicklungen in der virtuellen Welt korrelieren in der realen mit judenfeindlichen Übergriffen

Monika Schwarz-Friesel, Professorin für Linguistik an der TU Berlin, hat diese Studie durchgeführt, sie weist darauf hin, dass sich der von ihr dokumentierte Verbal-Extremismus nicht nur bei Rechts- wie Links-Extremen auf deren einschlägigen Plattformen und Portalen findet, sondern gerade auch in den Kommentarspalten der deutschen Qualitätspresse und der bestens eingeführten Mainstream-Medien. "Die Verfasser von Judenhass", so hat sie den "Tagesthemen" gegenüber ausgeführt, "verfügen zum Teil über eine ausgezeichnete Sprachkompetenz, über Hintergrundwissen und Bildung. Sie argumentieren pseudorational. Trotzdem verbreiten sie klassische Antisemitismen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen."

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Über zehn Jahre wurden ein exorbitanter Anstieg wie eine Intensivierung und Radikalisierung von Antisemtismen registriert. So hat sich zwischen 2007 und 2017 die Anzahl der antisemitischen Online-Kommentare dramatisch vervielfacht. Es gibt kaum noch einen Diskursbereich im Netz, in dem Nutzer nicht Gefahr laufen, auf antisemitische Texte, Bilder, Filme und/oder Songs zu stoßen, auch wenn sie gar nicht aktiv danach suchen. Denn man findet den Unflat längst auch in völlig themenfremden Diskussionsforen oder auf ansonsten unverdächtigen Ratgeberseiten. Die Studie spricht folglich von der "Konstante und einem kollektiven Gefühlswert des kulturellen Gedächtnisses."

Täglich Tausende Texte reproduzieren monoton die stereotype Verächtlichmachung der Juden und der Angehörigen jüdischen Glaubens, dazu israelbezogene Verschwörungstheorien, die in oft verschwurbelten Pseudo-Argumentationen uralte Motive von Judenfeindlichkeit wiederholen: Vom "Internationalen Weltjudentum", "Wucheren", dem "Ewigen Juden", den "Anhängern von Blutritualen und Opferkulten" ist da ganz selbstverständlich die Rede. 54 Prozent aller dieser Antisemitismen weisen solche klassischen Stereotype und Phantasmen auf. In dem auf Israel bezogenen, muslimischen Judenhass artikuliert sich neben dem offen geäußerten Vernichtungswunsch Israels auch der Vorwurf, "die Juden", die "Zionisten" oder auch "die Israelis" seien durch ihr Verhalten ja schließlich selber für den weltweiten Antisemitismus verantwortlich. Ein Fazit - man muss leider sagen: nur eines - der erschreckenden Ergebnisse dieser Studie ist dann: "Diese Entwicklungen in der virtuellen Welt korrelieren in der realen Welt mit judenfeindlichen Übergriffen, Beleidigungen, Drohungen und Attacken."

Als Langzeitstudie fußt diese Untersuchung auf einer breiten empirischen Basis: Sie trug ihre Daten in einem Pilotprojektmithilfe eines eigens entwickelten Web-Crawlers zusammen, der im Untersuchungszeitraum automatisiert insgesamt 66 374 Webseiten samt ihrer Kommentarspalten speicherte. Insgesamt 265 496 Kommentare auf Seiten von Facebook, Twitter, Youtube, aber auch von faz.net, spiegl.de, tagesspiegel.de, focus.de und taz.de, wurden so zusammengetragen. Sie fanden sich unter Artikel zu ausgewählten Schlagwörtern wie: "Israel", "Jude/n", "Nahost", "Antisemit/ismus". "Der Fokus", so die Studie dazu lakonisch, "lag hier stets auf dem Alltagssemitismus der Gesamtgesellschaft, also den Texten in den frei zugänglichen und täglich genutzten Mainstream-Bereichen und Sozialen Medien und nicht auf den Posts von Extremist_innen."

Drei Typen von Antisemitismen wurden identifiziert: Ein "klassischer Antisemitismus" mit den seit dem Mittelalter in Umlauf befindlichen Stereotypen, der Post-Holocaust-Antisemitismus, in dem Auschwitz nicht geleugnet wird und - im Gegenteil - den Juden moralische Ausbeutung "ihres" Holocaust vorgeworfen wird, und ein neuer Israel-Antisemitismus, der sich zwar als Kritik an Israels Politik geriert, aber als Ausprägung von Judenhass begriffen werden muss, wenn darin "Konzeptualisierungen der klassischen Judenfeindschaft zu sehen sind".

Kann man Antisemitismus mit Prozentangaben versehen?

Zwischen 2007 und 2017, so die Studie, hätten sich diese Variationsformen des Hasses in den Kommentarbereichen "sematisch radikalisiert", der Hass habe von 7,5 Prozent "auf mehr als 30 Prozent" zugenommen. Hier allerdings stellt sich die nicht unwesentliche Frage: So eindrücklich die 74-seitige Arbeit ihre Befunde mit empirischen Daten belegt, so wenig griffig mutet dieses angebliche Drittel an rezentem Antisemitismus in deutschen Kommentarspalten an. Denn dieses erschreckende Drittel, das als pure Zahl so eklatant wirkt, erweist sich als kaum verifizierbar, wenn man es als konkretes Maß an eine aktuelle Online-Debatte anlegt. Denn spätestens seit der ebenfalls gerade über die (sozialen) Medien laufenden Meldung, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg Holocaustleugner nicht von seiner Plattform verbannen will, weil Menschen oft "nicht absichtlich falsche Dinge sagen", steht die offene Frage in der Online-Welt, ob man Antisemitismus tatsächlich mit Prozentangaben messen kann.

© SZ vom 20.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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