Amoklauf von Winnenden:Schuld seid ihr alle

Lesezeit: 4 Min.

"Alles o.k.?" fragte sie ihre Tochter per SMS - aber da war Nina Mayer schon tot. Jetzt hat ihre Mutter den Tod der Referendarin beim Amoklauf von Winnenden in einem Buch verarbeitet.

J. Schloemann

Die Ethiklehrerin Gisela Mayer aus Weissach im Tal nordöstlich von Stuttgart hat vor bald einem Jahr ihr Kind beim Amoklauf an der Albertville-Realschule im nahegelegenen Winnenden verloren. Ihre Tochter Nina, Nan genannt, war Referendarin für Deutsch, Religion und Kunst an der Schule. Am 11. März 2009, kurz vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, wurde Nina Mayer von dem siebzehnjährigen Tim Kretschmer, der im Vorjahr an selber Stelle seinen Realschulabschluss abgelegt hatte, mit fünf Kugeln aus nächster Nähe erschossen.

Die Kälte darf nicht siegen

Sie hatte aus dem Stockwerk über ihr polternde Geräusche gehört und war hinaufgegangen, um nach dem Rechten zu sehen; dies wurde ihr im Flur zum Verhängnis, wo der Täter, der sich nach einer Verfolgungsjagd später in einer anderen Stadt selbst erschoss, kaltblütig abdrückte. "Wie in einem virtuellen Spiel", wie die Mutter sagt. Fünfzehn Menschen starben an jenem Tag von der Hand Tim Kretschmers, dreizehn wurden verletzt.

Aus der Trauer über ihre Tochter heraus hat Gisela Mayer nicht nur die Kraft gefunden, als Sprecherin des "Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden" für eine Verschärfung des Waffenrechts und die Eindämmung von Gewaltdarstellungen einzutreten. Sie hat auch ein Buch über ihren Verlust und die nötigen Schlüsse aus dem Amoklauf geschrieben, das an diesem Dienstag erscheint: "Die Kälte darf nicht siegen". Es ist ein teils leidenschaftliches, teils bedachtes Buch geworden, ein Trauerwerk und Plädoyer zugleich, ein erschütterndes, aufrüttelndes und auch ein heikles Buch.

Eindrücklich schildert die beraubte Mutter, die ein sehr enges Verhältnis zur Tochter hatte und sich mit ihr intensiv über Schule und Pädagogik austauschte, wie ihre SMS-Nachricht "Alles o.k.?" keine Antwort mehr fand, wie ihr der Kontakt mit Nina Mayers Leichnam 36 Stunden lang verwehrt wurde, und was der Amokläufer im Familienleben der Mayers zerstört hat: nämlich "eine Welt voll Licht und Leichtigkeit, eine Welt voll Leben und voll Vertrauen auf die unendliche Kraft der Liebe".

Beim nagenden Schmerz und seiner kaum möglichen Bewältigung aber will und kann Gisela Mayer nicht stehenbleiben. Der gewaltsame Tod der Tochter ist ihr Verpflichtung, eine allgemeine Veränderung in unserem Umgang miteinander einzufordern. "Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein!", schreibt sie.

Der Kampf gilt dabei nicht nur äußerlich einzudämmenden Erscheinungen, denen mit Verboten oder Gesetzesänderungen beizukommen wäre; darüber hinaus treten uns hier fratzenartig Eigenschaften im Zusammenleben entgegen, die kein mitfühlender Mensch gutheißen kann: "Verrohung", "Mangel an Empathiefähigkeit", "Gleichgültigkeitsliberalismus"; sodann Reizüberflutung durch maßlosen und unkontrollierten Medienkonsum von Jugendlichen, die Brutalisierung der Sprache, Demütigung als Freizeitspaß, die hilflose Aufmerksamkeitserregung durch Exzesse, Familien ohne gemeinsame Mahlzeiten, ein unverantwortlicher, weil ohne Zuspruch begleiteter "Teufelskreis von Leistung, Überforderung und Versagen".

Man wird der Autorin beipflichten, dass Kinder und Jugendliche ein "Netz aus Interesse, Zuneigung, Kommunikation, Schutz und Halt" brauchen. Die familiäre Erziehung und der Schulalltag müssen, wie Mayer ausführt, darauf ausgerichtet werden und dürfen die Verantwortung für Nichtbeachtung und Nichterziehung nicht hin- und herschieben. Die getötete Tochter, die als beginnende Lehrerin "versuchte, individuell zu fördern", wird dabei selbst zum pädagogischen Vorbild, dessen Befolgung helfen könnte, Amokläufer zu verhindern.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie aus einem Einzelmonster ein Kollektivmonster wird.

Gisela Mayers glaubwürdiger Versuch, aus den Schüssen von Winnenden einen Aufruf zu kommunitaristischen Tugenden zu gewinnen, begibt sich indes auf ein heikles Problemfeld, das bei noch recht frischer Trauer vielleicht schwer zu meiden ist. Dieses Problemfeld ist die zu enge Verknüpfung des Persönlichen mit dem Allgemeinen.

Tim Kretschmer litt, soweit wir in seine Seele sehen können, wie andere Amokläufer unter einem Mangel an Bindung und Anerkennung, und er suchte sein Selbstwertgefühl in virtuellen Welten sowie in der Schießbahn, die sein Vater neben einer Waffenkammer mit Pistolen und Gewehren und 4600 Schuss Munition in den Keller des Elternhauses gebaut hatte.

Anstatt nun bloß zu wünschen, dass es in der Familie Kretschmer anders zugegangen wäre (eine Frage, die in dem noch ausstehenden Strafprozess berührt werden wird), und dass dies als Lehre der verlangten Kultur der Empathie zugute kommen möge, geht Gisela Mayer so weit, eine Kollektivschuldthese aufzustellen.

Schleichende Verrohung

So lesen wir über das Motiv ihres Engagements: "Ich wollte das ehrliche Eingeständnis, dass das, was geschehen war, die Schuld vieler, nicht eines Einzelnen war." Es geht ihr darum, "dass in unserer Gesellschaft vieles schief läuft - und dass der Tod meiner Tochter letzten Endes eine Konsequenz dessen war". Entsprechend soll der gemeinsame Einsatz der Hinterbliebenen dem Zweck dienen, "die Gesellschaft daran zu erinnern, dass sie mitschuldig war am Tod unserer Kinder". Und weiter: "Die Opfer dieses Amoklaufs (...) sind auch an der schleichenden Verrohung der Gesellschaft gestorben."- "Tim Kretschmer ist ein exemplarisches Produkt dieser Gesellschaft, der mit größtmöglicher Brutalität auf diese zurückgeschlagen hat."

Der Groll ist höchst verständlich, und man kann es Gisela Mayer hoch anrechnen, dass sie sich nicht zurückgezogen hat, sondern in mutiger und mutmachender Weise an die Öffentlichkeit tritt. Doch Tim Kretschmer als "exemplarisch" zu bezeichnen, das geht zweifellos zu weit. Wäre er es, dann würden unzählige pubertierende Horrorfilmfans und Computerspieler täglich wild um sich schießen. Warum tun sie es nicht?

Wenn es billigermaßen heißt, der Täter dürfe nicht wie in den Boulevardzeitungen zum außerhumanen Einzel-"Monster" gemacht werden, so hilft es wohl auch nicht weiter, als Ersatz "die Gesellschaft" zum Kollektivmonster zu erklären. Gisela Mayer kritisiert den "technischen Blick" auf Menschen, und sie hat recht; aber ihr Buch steht ihrerseits in der Gefahr, der gewiss unabdingbaren "Technik" liebevoller Erziehung und Anteilnahme zu viel zuzumuten - als würde durch ein Höchstmaß an Zuwendung das Dunkle im Humanum gänzlich verschwinden können. Dass diese Einschränkung aber wiederum kein Grund für wegschauende Ignoranz sein darf, dafür hat die trauernde Mutter Gisela Mayer ein bewegendes Dokument vorgelegt.

GISELA MAYER: Die Kälte darf nicht siegen. Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann. Ullstein Verlag, Berlin 2010. 222 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 02.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: