Amerikanische Literatur:Fenster in ein vergangenes New York

Lesezeit: 4 min

Im Februar wurde Walt Whitmans Fortsetzungsroman "Life and Adventures of Jack Engle" wiederentdeckt. Nun sind gleich zwei Übersetzungen ins Deutsche erschienen.

Von Nicolas Freund

Manche Bücher führen ein eigenartiges Nachleben. Einstige Bestseller werden oft vergessen, während manche Bücher, von deren Erstausgaben nur wenige Exemplare gedruckt wurden, heute in jeder Buchhandlung zu bekommen sind. Angesichts der Menge vergessener und verschollener Texte großer Autoren, die in Zeitungsarchiven und ungesichteten Nachlässen vergilben, ist es ein Glück, dass nun ein bisher unbekannter Roman des amerikanischen Dichters Walt Whitman gleich mehrfach auf Deutsch erscheint ( SZ vom 27. Februar).

"Life and Adventures of Jack Engle" erschien 1852 als Fortsetzungsroman in der New Yorker Wochenzeitung Sunday Dispatch und ist danach schlicht vergessen worden, was nicht ungewöhnlich ist, denn der Text wurde anonym publiziert. Und Fortsetzungsromane in Zeitungen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Dutzendware, selbst wenn sie sehr gut waren. Experten schätzen, dass Whitman mehr als 1200 Artikel für verschiedene Zeitungen verfasst hat. Da die meisten davon anonym veröffentlicht wurden, sind sie nur durch Hinweise in seinen Notizbüchern und mühsame Archivarbeit identifizierbar. Dass gerade jetzt ein ganzer Roman in dem Zeitungsberg auftaucht, ist aber kein Zufall. Durch neue digitale Datenanalysen wurden in den vergangenen Jahren viele Entdeckungen aus den Archiven gespült. Weitere werden folgen.

Zachary Turpin, Doktorand an der Universität Houston, der "Life and Adventures of Jack Engle" entdeckte, ist seit Jahren verschollenen Texten Whitmans auf der Spur. 2016 entdeckte er eine Serie von Fitness-Texten, die Whitman unter Pseudonym für die Zeitung The New York Atlas geschrieben hatte. Solche kleinen Zeitungen sind nicht digitalisiert, also auch nicht mit Suchmaschinen zu durchforsten, anders als die New York Times, in deren Anzeigen Turpin auf eines der bekannten Pseudonyme Whitmans stieß, das ihn zu der Serie im New York Atlas führte, der in manchen Bibliotheken noch einsehbar ist.

Später drohte Whitman, jeden zu erschießen, der sein Jugendwerk publizieren würde

Den "Jack Engle" machte Turpin ausfindig, indem er die eigenwilligen Namen von Charakteren aus Whitmans Notizbüchern in die Suchmaschine eingab, und tatsächlich fand er eine Anzeige, die für den Fortsetzungsroman im Sunday Dispatch 1852 warb, der nur noch in der Library of Congress auf Mikrofilm verfügbar ist. Ein Abgleich des Fortsetzungsromans mit Whitmans Notizbüchern brachte dann die Gewissheit. Vor allem die eigenwilligen Namen ("Smytthe", "Wigglesworth") konnten kein Zufall sein.

Walt Whitman ist der bekannteste und bedeutendste amerikanische Dichter des 19. Jahrhunderts. In seinen späten Jahren drohte er jeden zu erschießen, der es wagen sollte, sein Jugendwerk zu publizieren. Bekannt sein wollte er allein als Autor seines Hauptwerkes, des Gedichtbandes "Leaves of Grass", den er gleich mehrmals publizierte und an dem er bis an sein Lebensende arbeitete. Er lässt sich als eine Art Manifest des weltoffenen, jungen, multikulturellen Amerika lesen.

Für seinen nun wiederentdeckten Zeitungsroman über die Alltags- und Liebesabenteuer des jungen angehenden Anwalts Jack Engle im New York des 19. Jahrhunderts hätte er sich aber nicht schämen müssen, obwohl manches etwas klischeehaft wirkt - ein Waisenkind, ein böser Anwalt und viele schöne Frauen kommen vor. Hellwach erzählt der Roman direkt aus dem Leben in New York Mitte des 19. Jahrhunderts und dass der Text nun wie aus einer Zeitkapsel im 21. Jahrhundert auftaucht, verstärkt noch den faszinierenden Effekt eines Fensters, das sich plötzlich in eine vergangene Zeit öffnet.

In einem Kapitel streift Jack Engle melancholisch über einen alten Friedhof und spinnt zu den Inschriften auf den Grabsteinen kleine Geschichten über Leben und Tod, über den stillen Ort inmitten der nie ruhenden Stadt. "Jack Engle" scheint nicht nur in diesem Kapitel, in dem die hohen Grashalme Jack bis ins Gesicht reichen, über die Form des Zeitungsromans hinauszuweisen, als Wendepunkt zur nicht von einem Plot getriebenen Lyrik.

Auf Deutsch erscheint der Roman, der bei seiner Erstveröffentlichung mit Sicherheit ein überschaubares Publikum fand und nun zur globalen Sensation geworden ist, gleich mehrfach. Für das Frühjahr 2018 kündigte dtv eine Übersetzung an. Der kleine Verlag Das kulturelle Gedächtnis wollte seine Übersetzung von Stefan Schöberlein im September 2017 herausbringen. Beide wurden vom Manesse-Verlag überboten, der den im Februar aufgetauchten Roman von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli übersetzen ließ und Anfang dieser Woche auf den Markt warf. Das kulturelle Gedächtnis ließ sich auf das Rennen ein und hat seine Übersetzung vorgezogen.

(Foto: Verlag)

Mit Sicherheit hat keine der Übersetzungen von dem Zeitdruck profitiert. Die leicht ironische, immer einen Dreh zu verschnörkelte Sprache des Originals wird allenfalls ahnbar, der leise Selbstzweifel, der über dem Text liegt, geht oft verloren. Sehr frei überträgt die Manesse-Übersetzung den Text in modernes Deutsch. Aus "'And have you really the singular fortune', asked the dancing girl, 'not to know who your parents were?'", wird: "'Und du hast wirklich das Pech, deine Eltern nicht zu kennen?', fragte die Tänzerin". Die Inversion, die in der Mitte des Satzes das "dancing girl" auftauchen lässt, fehlt, die kosmische Dimension des "singular fortune" ist verblasst. Bei Schöberlein heißt es treffender: "'Und so ist es tatsächlich dein Schicksal', fragte das Tanzmädchen, 'nicht zu wissen, wer deine Eltern waren?" Wie hier trifft Schöberlein den Ton eines Fortsetzungsromans aus dem 19. Jahrhundert, dafür schießen bei ihm manchmal "Gewächshauspflanzen ins Kraut". Die Antwort Jacks auf die Frage des Tanzmädchens fehlt übrigens in beiden Übersetzungen, bei Schöberlein ganz, Orth-Guttmann und Wehrli übertragen sie nur halb.

Peter Graf vom Verlag Das kulturelle Gedächtnis sieht die rasche Veröffentlichung des Romans auch als ein Statement für die multikulturelle Metropole und das Amerika Whitmans. Der amerikanische Professor James McWilliams hingegen befürchtet in der Paris Review, der Fund des Romans könnte das wichtigere Werk Whitmans gefährlich überblenden. An der dritten deutschen Fassung des Romans arbeitet für dtv übrigens Jürgen Brôcan, der schon "Leaves of Grass" neu übertragen hat. Und Zachary Turpin, der den Roman aufspürte, wird im kommenden Semester Assistant Professor an der University of Idaho. Manche hoffen, dass sich mit seiner Mischung aus digitalen und analogen Recherchemethoden weitere Texte finden lassen, etwa der letzte Roman Herman Melvilles, der ebenfalls als verschollen gilt.

Walt Whitman: Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Aus dem Englischen von Stefan Schöberlein. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 192 Seiten, 22 Euro. Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli. Manesse Verlag, Zürich 2017. 186 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 24.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: