Alben der Woche:Bodenständig, aber zum Himmel strebend

Lesezeit: 6 min

Im Internet sagen alle, Arlo Parks hätte die Stimme eines Engels. Wenn schon, dann ist sie ein leicht verärgerter Engel. (Foto: Alexandra Waespi/dpa)

Neue Musik von "The Notwist", Buzzy Lee, "Weezer", Nahawa Doumbia, Celeste, "Goat Girl" und der ersten Pop-Sensation des jungen Jahres: Arlo Parks.

Goat Girl - On All Fours (Rough Trade)

Tendenziell verträumt und fluide, klangverliebt, experimentell, außerirdisch: "On All Fours" von "Goat Girl". (Foto: Rough Trade Records)

Während andere derzeit wüten, toben und dengeln, bringt diese junge Londoner Band ihren Kommentar zum Post-Brexit-England im komplett idiosynkratischen Duktus. Goat Girl, bestehend aus drei Frauen und einer nicht-binären Person, erschaffen auf ihrem zweiten Album einen Science-Fiction-Gitarrenpop, wie man ihn lange nicht gehört hat: hochmelodisch und zutiefst launisch, mit Reggae-Geräuschen und schläfrigem Schmelz, trotzdem überrumpelnd organisch und ohne Zitat-Koketterie. Im Sturm erobert einen das freilich nicht, aber spätestens ab dem zweiten Hören reift "On All Fours" zu einem Meisterwerk, das am ehesten noch an aufregende Post-Punk-Zeiten erinnert - und, zufällig oder nicht, an geniale Frauenbands wie Slits oder Raincoats. Joachim Hentschel

Buzzy Lee - "Spoiled Love" (Future Classic)

Die Tochter von Steven Spielberg, Sasha Spielberg, veröffentlicht diesen Freitag unter dem Pseudonym Buzzy Lee ihr erstes Album, "Spoiled Love". Es beginnt mit ihr im Zwiegesang mit sich selbst. Sie singt "Uhuu-uhuhuhuhuuu". Dann folgt Klavier, dazu beklagt sie mehrstimmig ihr Schicksal. Auch ansonsten ist das Album sehr balladenlastig. Menschen, die Lana del Reys "Hope is a dangerous thing for a woman like me to have - but I have it" von "Norman Fucking Rockwell!" mochten, aber es gerne noch eine Spur sentimentaler und weniger sexuell mögen, sind hier goldrichtig. Und Leute, die es mögen, wenn man ihnen ins Ohr singt!

Buzzy Lees Stimme ist nämlich durchgehend sehr nah aufgenommen. Sie singt einem ihre Befindlichkeiten vor. Sie hat nämlich Kopfschmerzen. "And my head hurts / but it always does." Man weiß nicht genau, warum, aber so wie sie es intoniert, ist stark davon auszugehen, dass man persönlich schuld daran ist. Ihr alle da draußen, es ist eure Schuld, dass Spielbergs Tochter Kopfschmerzen hat! Schämt euch! (Der Track heißt "Rules", und hiermit sei empfohlen, sich auch/nur "Rules" von BbyMutha anzuhören, dann weiß man wenigstens, was man zu tun und zu lassen hat!) Juliane Liebert

Nahawa Doumbia - "Kanawa" (Awesome Tapes From Africa)

(Foto: Awesome Tapes From Africa)

Die Sahelzone erscheint in den Nachrichten meist als Krisenherd. Dabei hat sie sich schon länger einen Platz auf Weltkarte des Pop gesichert. Der Wüstenblues von Tinariwen befreite die musikalische Tradition der Nomaden aus der Weltmusikschublade, ohne sie nach westlichen Hörgewohnheiten zurechtzustutzen. Die malische Sängerin Nahawa Doumbia braucht nach vierzig Jahren Bühnenerfahrung bestimmt keine Schützenhilfe mehr. Ihre Musik ist geprägt von der Ngoni, einer Art Laute, die warm und zugleich perkussiv klingt, die also rhythmisch treiben und beseelen kann. Auf ihrem neuen Album "Kanawa" beschäftigt sich Doumbia mit der Flucht der jungen Menschen aus dem kriegsgebeutelten Mali. In ihrer Verzweiflung setzten sie ihr Leben aufs Spiel. Zentrale Botschaft von "Kanawa": Gebt ihnen eine Perspektive in ihrer Heimat! Juliane Liebert

Celeste - "Not Your Muse" (Universal Music)

(Foto: Universal Music)

Jazz galt lange als tot oder zumindest nur noch durch die Eames-Chair-möblierten Wohnhallen saturierter Männer aus sorgsam entstaubten Plattenspielern plätschernd. Dann kam Kamasi Washington, und good ol' sister Jazz sprang fit wie Lazarus über die Tanzfläche des Pop - ein wenig vereinfacht dargestellt. Aber nur ein wenig. Doch wie sieht es eigentlich mit den Frauen aus? Den Sängerinnen? Norah Jones als Soundkulisse für Hotelrestaurants kann doch nicht alles gewesen sein. Ganz recht! Denn es gibt jetzt Celeste.

Die britische Soulsängerin veröffentlicht am Freitag ihr Debütalbum "Not Your Muse". Aber macht sie überhaupt Jazz? Die Antwort ist ein klares Ja! Und ein klares Nein!

Schmeichelballaden ohne allzu viel Schmelz, auf dem man ausglitschen könnte, macht sie. Wachmacher für den Morgen nach champagnergesättigten Nächten. Wo nötig, croont hier die Diva noch selbst. Harmonisch anspruchsvoll und doch eingängig sind ihre Songs, blitzblank produziert, aber nicht steril. Das ist R 'n' B, ein bisschen, aber vor allem sehr viel Jazz. Gelegentlich hängt ihre Stimme ein paar Hertz unter dem sauberen Ton. Aber das ist kein Mangel. Celeste interessiert sich nicht für rhythmische Songgymnastik als Olympiadisziplin, sondern für Soul und das ganz große Gefühl, das ihr aber nie aus der Form flutscht. Im Hotelrestaurant lenkt diese Platte definitiv zu sehr vom Essen ab. Juliane Liebert

Weezer - "OK Human" (Atlantic/Warner)

(Foto: Warner Music)

Und sonst? Ansonsten produzieren Weezer Alben, als könnten sie das Haus nicht verlassen. Zwei sind für 2021 angekündigt: eins namens "OK Human" für diesen Freitag, im Mai dann "Van Weezer". Der Titel "OK Human" ist offensichtlich eine Anspielung an Radioheads "OK Computer". Musikalisch klingt es vom ersten Ton an allerdings direkt sehr nach Weezer. Nur die Texte sind, man merkt es gleich, nicht mehr das, was sie mal waren. Während es auf "Buddy Holly" noch hieß "I don't care what they say about us anyway / I don't care 'bout that", fragt sich Sänger Rivers Cuomo im Opener "All My Favourite Songs" mittlerweile, was verkehrt mit ihm ist.

Cuomo sehnt sich nach Partys, aber geht nicht hin. Er will reich sein, aber fühlt sich schuldig. Dann Streicher. Streicher machen alles besser. Da erinnert man sich doch lieber an die Zeiten, als es noch "The Weezer Cruise" gab. Da fuhren Weezer mit einem Kreuzfahrtschiff von Miami nach Cozumel. 2012 war das. Niemand machte sich Sorgen wegen des Klimawandels, und Weezer warfen Themennächte, und es gab ein Weezer-Museum an Bord. Wo sind die Zeiten hin? Andererseits, vielleicht findet die nächste Weezer Cruise auf einem Raumschiff statt. Das wäre doch dann wiederum schön. Dann wären sie weit weg. Juliane Liebert

Arlo Parks - "Collapsed in Sunbeams"

(Foto: Pias/Transgressive/Rough Trade)

"Als sie siebzehn wurde, rasierte sie sich ihren Kopf, erkannte ihre bisexuelle Identität und fing an das zu schreiben, was nun ihr Debütalbum werden wird", heißt es im Pressetext zu "Collapsed in Sunbeams", dem Debüt von Arlo Parks. Und wenn es zwischen diesen Dingen einen Kausalzusammenhang gibt - Kopf rasieren, bisexuelle Identität erkennen, Debütalbum schreiben -, dann beten wir, dass sich in Zukunft noch mehr Siebzehnjährige dazu entschließen, denn das Album ist, nun, man möchte fast sagen: der Wahnsinn. Irgendwas zwischen der frühen Kali Uchis, Amy Winehouse und der besten Band der vergangenen zwei Jahre, Sault.

Aber eigentlich ist es eher eine Giraffe. Eine Giraffe? Eine Giraffe! Giraffen sind auch bisexuell und irgendwie unpraktisch. Aber sehr schön. Trottelig und elegant. Bodenständig, aber zum Himmel strebend. Im Internet sagen alle, Arlo Parks hätte die Stimme eines Engels. Wenn schon, dann ist sie ein leicht verärgerter Engel. Michelle Obama und Billie Eilish sind Fans. Von Arlo Parks. Keine Ahnung, wie sie zu Giraffen stehen. Juliane Liebert

The Notwist - Vertigo Days (Morr Music)

Als schleiche man durch eine leer stehende Holzhütte im Wald: "Vertigo Days" (Foto: Morr Music/dpa)

Wenn in der Zukunft Kunstkritiker und Geisteswissenschaftler die Musik dieser Seuchenzeit zu einer Gattung stampfen, zum Beispiel zur Strömung des Pandemissmus, des Modern New Wave, oder der Neuen Deutschen Einsamkeit, könnte sich "Vertigo Days" (Morr Music) als ein Hauptwerk dieser Epoche herausstellen.

Fast nervig fundamentalistisch zieht sich der Albumtitel um die schwindligen Tage durch die 14 Lieder. Es hallt, wabert, verschwimmt und verklingt. Jemand klimpert beim ersten Song "Into Love" auf einem alten Klavier, es raschelt im Hintergrund, als schleiche man durch eine leerstehende Holzhütte im Wald, die man gerade entdeckt hat. Schön (diese Ruhe, dieser Frieden), aber doch auch gruselig (wo sind eigentlich alle?). Man schaut sich ein bisschen um, spielt etwas an, nimmt ein paar staubige Gegenstände in die Hand, öffnet dann wieder die moosbewachsene Tür nach draußen, aber der Wald ist verschwunden. Dafür strahlen tausend Sterne aus dem All. Schwebe-Sound, helle Synthies funkeln, und auch im Weltraum ist alles verschallert.

The Notwist wissen Bescheid, wie sich das anhört, wenn nichts mehr da ist, wo es hingehört. Und sie wissen auch, wie man das sagen muss: "Now that you know the stars ain't fixed / the roads ain't straight" - und nur weil du weißt, wie sehr es weh tut, wird es dich nicht davon abhalten, dich wieder zu verlieben. Diese auktoriale Besserwisserei (ja ja, er hat ja Recht) vorgetragen mit der vernünftigen Stimme von Markus Acher könnte das Album als ehrgeizige Auftragsarbeit "Schreibe den Sound zur Situation" unsympathisch machen - wenn nicht so viel Wärme zwischen dem Elektropop und Krautrockschwurbel steckte. Dafür sorgen minimale Streicher, sanfte Bläser, Folk-Liebeleien mit Tamburin und Gitarrenzupfer und die Abgeklärtheit, mit der The Notwist durchs Album führen. Keiner geht verloren in diesem verspulten Konzeptwerk. Auch nicht bei Sprachwechsel in den asiatischen Raum. Zum ersten Mal experimentiert die seit Urzeiten (also 30 Jahren) existierende Weilheimer Band mit nicht-englischsprachigen Lyrics und singt mit der Avantgarde-Pop-Künstlerin Saya Ueno auf japanisch über Schiffe, Häfen, Sehnsucht, und bestimmt auch die Liebe. Und betont damit tröstend unaufdringlich, dass eben nicht nur ein Virus keine Grenzen kennt. Marlene Knobloch

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