Abstrakte Kunst:Absichtsvoll absichtslos

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Wie das Flimmern alter Schwarz-Weiß-Fernseher wirkt das Werk von Heinz Mack mit dem Titel "Weiße dynamische Struktur" von 1962. Mack erzielt allein mit zwei Farben die Illusion, als bewegte sich das Bild. (Foto: Stiftung Sammlung Kemp/Museum Kunstpalast ARTOTHEK/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Künstler trieben die Reduktion auf Schwarz und Weiß mit monochromen Bildern auf die Spitze. Die Palette reicht vom reinen Schwarz bis zu optischen Täuschungen.

Von Sandra Danicke

Als Kasimir Malewitsch 1915 in einer Ausstellung in St. Petersburg erstmals ein schlichtes schwarzes Quadrat als Kunstwerk präsentierte, waren jene, die sich das ansahen, schon ziemlich baff. Nicht allein deshalb, weil auf dem Bild anscheinend jegliches Motiv fehlte, auch die Platzierung provozierte: Es hing übereck unter der Decke, an jener Stelle, an der in russischen Zimmern normalerweise Ikonen hingen. "Ich habe die nackte Ikone meiner Zeit gemalt", behauptete der Künstler damals, und das war ein starkes Stück. Ein Bild, auf dem außer einem schwarzen Viereck und einem weißen, gemalten "Rahmen" gar nichts drauf ist, sollte eine Ikone sein?

Malewitsch erklärte, dass er mit seinem Werk "die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien" versuchte. Offenbar wollte er sein Bild - von dem er später drei weitere Versionen schuf - als spirituelle Anregung verstanden wissen. Der Betrachter kann sich hineinversenken und über den Raum, das Nichts oder Gott meditieren. Oder er begreift es als formales Statement. Als minimalistischen Endpunkt, den radikalen Bruch mit Traditionen. Was genau das Bild bedeuten soll, bleibt im besten Sinne offen.

Jackson Pollock schüttete einfach Farbe auf liegende Leinwände

Wenn in der Kunst außer Farbe auch noch ein gegenständliches Motiv fehlt, ist die Abstraktion potenziert - und damit das Interpretationsspektrum ins Unendliche erweitert.

Das gilt auch für Jackson Pollocks seit den Vierzigerjahren entstandenen "Drip Paintings". Pollock schüttete die Farbmasse - wobei es sich in der Regel um schwarze und weiße Flüssigfarben handelte - einfach in kleinen Rinnsalen auf liegende Leinwände oder Papier und erzeugte so ein energetisches Wirrwarr ohne Zentrum, in dem das Auge sich nicht wirklich zurechtfinden kann. Man braucht schon eine Weile, um die Schönheit und Poesie wahrzunehmen, die von den Schlieren, Linien und Tropfen ausgeht, vom raffinierten Zusammenspiel von Zufall und Kalkül.

Wenige Jahre nach Pollocks Erfindung, 1952, entwickelte in Deutschland der Maler K.O. Götz eine neue Technik, die ebenfalls zu absichtsvoll absichtslosen Bildern voller Dynamik führte: Zuerst trug er Kleister auf die Leinwand auf, anschließend fügte er (meist schwarze) Gouachefarbe hinzu und bearbeitete sie mit einer Rakel, sodass das Ergebnis lässig hingeworfenen Gesten gleicht und eine erstaunliche Tiefenwirkung hat. "Abstrakt ist schöner", fand der Künstler.

Ähnliches muss auch der amerikanische Farbfeldmaler Ad Reinhardt gedacht haben, der in seinen letzten Schaffensjahren, zwischen 1953 bis 1967, ausschließlich schwarze Gemälde anfertigte. Rechteckige Bilder, die er als Meditationstafeln verstand und als "gestaltlos, formatlos, formlos, lichtlos, farblos, glanzlos, raumlos, beziehungslos, ohne Komposition, ja ohne Interesse", beschrieb. Man muss schon dicht herangehen, um zu erkennen, dass sich in diesem Schwarz-in-Schwarz kleine Formen verbergen, die allein durch ihre unterschiedliche Pigmentierung überhaupt erkennbar sind. So entstand eine Malerei, mit der sich der Künstler von allem befreite: von historischen Zwängen, der Suche nach einer persönlichen Handschrift und einem Motiv.

Auch Reinhardts Kollegen Frank Stella ging es darum, jegliche Bedeutung und subjektiven Ausdruck aus seinen Bildern zu verbannen. Zwischen 1958 und 1960 schuf der Minimal Artist seine großformatigen "Black Paintings", Bilder, in denen das Schwarz - es handelt sich um gewerbliche schwarze Lackfarbe, Stella verdiente seinen Lebensunterhalt damals als Anstreicher - in dicht nebeneinander gesetzten Streifen angeordnet ist, sodass dazwischen Linien aus unbemalter Leinwand stehen geblieben sind.

Auf diese Weise entstanden schlichte Muster, die sich aus einer einmal gefällten Entscheidung und der Form der Leinwand ergaben. Stella gab diesen flächigen, motivlosen Werken düstere Titel wie "Die Fahne Hoch!", eine Anspielung auf das sogenannte Horst-Wessel-Lied, oder auch "Arbeit Macht Frei". Auf die Frage, wie diese Bilder gelesen werden sollten, antwortete der Künstler irritierenderweise: "Was Sie sehen, ist das, was Sie sehen." Der optische Effekt, ein leichtes Pulsieren, ist übrigens erstaunlich, wenngleich weit weniger spektakulär als der Illusionismus, der kurze Zeit später im Zuge der Op-Art entstand.

Eine der profiliertesten Vertreterinnen dieser Kunstrichtung, die mit der durchdachten Anordnung geometrischer Formen erstaunlich räumliche Effekte erzielt, war die britische Künstlerin Bridget Riley. Mit Bildern wie "Movement in Squares", das aus schachbrettartig angeordneten schwarzen Quadraten besteht, deren Breite zur Mitte hin kontinuierlich abnimmt, schuf Riley seit 1961 abstrakte Ikonen mit dramatischen Sogwirkungen. Ihr Ziel: mit gegenstandslosen Formen die Illusion von Licht und Bewegung hervorzurufen. Zu den frühesten dieser Werke zählt "Horizontal Vibration", das jetzt in Düsseldorf zu sehen ist. Es wirkt, als ob die unterschiedlich dicken Linien sich ausdehnten und zusammenzögen, fast will es so scheinen, als atmeten sie.

Eine ganz ähnliche Wirkung erzielte Heinz Mack mit seinen "Dynamischen Strukturen" - Bilder, häufig in Schwarz und Weiß, auf denen der Künstler mithilfe eines Fensterwischers vertikale und horizontale Strukturen bildete, deren konkrete Umrisse von den Augen kaum zu fassen sind. Was man sieht, erscheint als flirrende Schwingungen, etwas, das sich über seine materielle Existenz in den Raum dehnt. Mack, der 1957 mit Otto Piene die Gruppe ZERO gegründet hatte, zielt auf die Entmaterialisierung des Kunstobjektes. Immer wieder setzte er dafür auch Motoren und Lichtstrahler ein. Seine "Dynamischen Strukturen" beweisen jedoch, dass man auch mit konventionellen Materialien wie Farbe und Leinwand ganz beachtliche Effekte erzielen kann. Was genau diese Bilder letztlich bedeuten sollen, bleibt aber - wie so oft - völlig offen.

Ein Fakt, mit dem sich die britische Konzeptkünstlergruppe "Art & Language" seit den 1960er-Jahren humorvoll auseinander setzt. Bis in die späten 1970er verzichtete die Gruppe weitgehend auf die Herstellung herkömmlicher Kunstwerke. Ihre Kunst ist der Diskurs über Kunst, darüber, was sie ist oder sein könnte. Ihr "Secret Painting" (1967 - 68) besteht aus zwei sichtbaren Komponenten - einem schwarzen Bild und einem erklärenden Text: "Der Inhalt dieses Gemäldes ist unsichtbar; der Charakter und die Größe des Inhalts müssen für immer geheim gehalten werden und sind nur dem Künstler bekannt." Ein drittes - unsichtbares - Element befindet sich also unter der schwarzen Farbschicht. Oder nicht? Womöglich existiert der unsichtbare Inhalt, den der Text behauptet, einzig und allein in den Köpfen der Betrachter.

So mutiert die präzise (und doch überhaupt nichtssagende) Beschreibung zum wichtigsten Bestandteil des Kunstwerks. Außerdem spricht sie genau das aus, was bei abstrakter Kunst fast jeder denkt, sich aber kaum jemand auszusprechen traut: Dass man nie so genau wissen kann, was der Künstler uns mit dem Werk eigentlich sagen wollte.

© SZ vom 20.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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