68. ARD-Musikwettbewerb:Auftakt

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Der Anfang der Allemande in Bachs sechster Cellosuite, einem Repertoirestück für jeden Cellospieler. (Foto: Christian Jooss-Bernau)

An diesem Montag startet der traditionsreiche Wettbewerb mit 212 Instrumentalisten. Die meisten Bewerber kommen aus Südkorea, es folgen Deutschland, Frankreich und Japan

Von Thomas Jordan

Christine J. Lee lebt seit vier Jahren in einer kleinen Stadt in Belgien. Zuvor hat die 27-Jährige in den USA Cello studiert, am berühmten Curtis Institute of Music in Philadelphia, das Weltstars der Klassik von Leonard Bernstein bis Lang Lang hervorgebracht hat. Später ging sie an die noch berühmtere Juilliard-School in New York. Dafür war die Cellistin bereits mit zehn Jahren mit ihrer Mutter aus dem südkoreanischen Seoul in die Vereinigten Staaten gezogen. Eigentlich heißt sie auch nicht Christine, sondern Jeong Hyoun, was aber für Amerikaner schwer auszusprechen ist. In diesem Jahr nimmt die Cellistin am 68. ARD-Musikwettbewerb in München teil, dem weltweit größten Wettbewerb für klassische Musik. In vier von insgesamt 21 Fächern, die jedes Jahr wechseln, treten von 2. bis 20. September junge Musiker aus aller Welt an, um sich vor einer Jury zu bewähren. Dieses Jahr sind Schlagzeug, Klarinette, Fagott und Cello an der Reihe.

Für Christine J. Lees Entscheidung, sich in München zu bewerben, spielt das Renommee des Traditionswettbewerbs eine wichtige Rolle. Wer hier weit kommt, kann sich für ein paar Jahre ein unsichtbares, aber international gültiges, musikalisches Gütesiegel an die Brust heften. Nicht selten schlägt sich ein Erfolg hier in Plattenverträgen, Konzerttourneen und Einladungen zum Vorspielen bei den führenden Orchestern dieser Welt nieder. Der künstlerische Leiter des Wettbewerbs, Oswald Beaujean, formuliert es so: "Niemand kommt wegen der Preisgelder nach München." Die sind laut Beaujean nämlich eher "ein Problem". Mit fünf- bis zehntausend Euro für die Hauptpreisträger sind die Münchner weit von den internationalen Topzahlern entfernt. Was zählt, ist der Name.

Es gibt eine Reihe weiterer Gründe, warum knapp 600 Musiker in diesem Jahr ihre Bewerbungsvideos nach München geschickt haben. 212 von ihnen wurden zugelassen. Theo Plath hat sich unter der rekordverdächtigen Bewerberanzahl von 171 Fagottisten einen Platz gesichert. Der Wettbewerb hilft dem 25-Jährigen, sich über den Sommer intensiv mit ausgesuchter Fagott-Literatur zu beschäftigen, und die eigene Motivation auch bei 30 Grad im Schatten aufrechtzuerhalten. Christine J. Lee, seine aus Südkorea stammende Musikerkollegin, nennt als Grund auch das breite Repertoire des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Für sie wäre es eine Riesenchance, im Finale zusammen mit den etablierten Profis aus München spielen zu können. Schließlich ist sie gerade selbst auf dem Sprung zur Profimusikerin. Dafür ist die 27-Jährige beinahe um die ganze Welt gereist.

Christine J. Lees Biografie erzählt gleich mehrere Geschichten. Eine davon ist die vom ungeheuer fleißigen Musikernachwuchs aus Asien. Eine Geschichte, die Szenekennerin und Hochschulprofessorin Nina Janßen-Deinzer in einen Sportvergleich fasst. "Der ARD-Musikwettbewerb sind die Olympischen Spiele der Klassik", sagt die Klarinettistin, die dieses Jahr in München in der Auswahljury sitzt. Da komme auch keiner aufs Treppchen, wenn er nicht permanent trainiere. Das macht nicht immer nur Spaß.

Bei den Bewerbungen liegt dieses Jahr das 52-Millionen-Einwohner-Land Süd-Korea vor Deutschland, Frankreich und Japan. Dabei stehen die in Asien besonders populären Instrumente diesmal gar nicht auf dem Programm. Im Fach Klavier etwa muss man in der Geschichte des Musikwettbewerbs bis ins Jahr 1999 zurückgehen, bei der Geige sogar bis ins Jahr 1995, um - mit der Ausnahme von 2017 - einen Jahrgang zu finden, in dem kein Bewerber aus Asien unter den Preisträgern war. Für Janßen-Deinzer hat der Erfolg vieler Südkoreaner, Japaner und Chinesen auch mit Unterschieden im Erziehungsstil zu tun. Während man in Europa zu liberaleren Methoden übergegangen sei, hätten viele Asiaten mehr Drill erlebt. "Klassische Musik ist Hochleistungssport", sagt sie. Auch europäische Spitzensportler hätten Nachwuchsprobleme. "Die Jugend ist zu dieser Schinderei oft nicht mehr bereit", sagt die Klarinettistin.

Die in Südkorea geborene Hyeyoon Park hat im Jahr 2009 als jüngste Teilnehmerin seit dem Bestehen des Wettbewerbs mit 17 Jahren den ersten Preis im Fach Geige gewonnen. Es war eine Sensation, über die sie sagt: "Mein ganzes Leben hat sich dadurch verändert." Wenn die heute 27-Jährige über den Erfolg südkoreanischer Musiker spricht, klingt das etwas anders als bei der deutschen Hochschulprofessorin: "Wir haben das Temperament und die Leidenschaft, das auszudrücken, was innendrin brennt - und wir haben die Disziplin, ab und an zu üben", sagt Hyeyoon Park und muss dann ein bisschen lachen. Mit viereinhalb Jahren hatte sie zum ersten Mal eine Geige in der Hand, kurz danach habe sie gewusst, dass sie professionelle Geigerin werden wolle.

Das hieß dann auch, bis zu sechs Stunden am Tag zu üben, um mit neun Jahren ihr Konzertdebüt mit dem Seoul Philharmonic Orchestra zu geben. Mit zehn zog auch sie in die USA, nur vier Jahre später stand schon der nächste Kontinent an: "Ich wusste, dass ich nach Berlin ziehen muss, um die besten Lehrer zu bekommen", sagt Park. Sie, die als Solistin schon mit Stardirigenten wie Kent Nagano auf der Bühne stand, antwortet auf die Frage, ob sie bei all dem Erfolg etwas vermisst habe, beinahe poetisch: "Wer etwas gewinnt, verliert auch etwas." Ein normales Uni-Leben mit Freunden zum Beispiel habe sie nie gehabt. Dafür war einfach keine Zeit.

In jeder Instrumentengattung bringen die Teilnehmer des ARD-Wettbewerbs auch neue Werke zu Gehör, die als Pflichtstücke extra für diesen Anlass geschrieben wurden. Die Auftragskomposition im Fach Schlagzeug hat die in Südkorea geborene Klangkünstlerin Younghi Pagh-Paan geschrieben. Ihr Stück "Klangsäulen für Schlagzeug solo" ist beim Semifinale am 12. September zu hören. Zusammen mit allen anderen Auftragskompositionen erklingt es ein zweites Mal beim Sonderkonzert in der White Box im Werksviertel am 15. September. Die heute 73-jährige Younghi Pagh-Paan kam 1974 aus Südkorea an die Hochschule Freiburg; die große Tradition der klassischen Musik in Deutschland hatte sie fasziniert. Anfangs war sie die einzige Asiatin in der Kompositionsklasse.

Im Jahr 2019, wenn Christine J. Lee sich mit Bewerbern aus aller Welt beim Musikwettbewerb misst, sind die deutschen Studenten die internationale Atmosphäre von ihrer Ausbildung längst gewöhnt. An der Musikhochschule in München kamen im vergangenen Jahr knapp 40 Prozent der Studenten aus dem Ausland.

Doch trotz mancher Gemeinsamkeiten mit ihren Mitbewerbern erinnert Christine J. Lees Biografie auch daran, dass hinter jedem Musiker eine ganz individuelle Geschichte steckt. Dass die 27-Jährige nun nicht mehr in New York, sondern in der belgischen Kleinstadt Waterloo lebt, ist ein Teil davon. Im Unterschied zu den sehr renommierten, aber auch sehr verschulten amerikanischen Eliteinstituten hat sie an ihrer belgischen Musikhochschule viel mehr Zeit und Flexibilität für eigene Projekte. "Ich habe irgendwann verstanden, dass es mir nicht hilft, die Extra-Schippe Stress draufzulegen", sagt die junge Frau. Statt ständig ans Gewinnen zu denken, will sie die Teilnahme am Wettbewerb dazu nutzen, sich persönlich weiterzuentwickeln. "Was die Leute wirklich schätzen, ist, wenn du Spaß an dem hast, was du tust", sagt Christine J. Lee. Schließlich gehe es beim Musizieren darum, etwas auszudrücken, immer wieder neue musikalische Gespräche einzugehen - mit dem Publikum, den Mitspielern und dem Instrument. Oft gelingt das ohne viele Worte.

Für Christine J. Lee war das ein wichtiger Grund, nach Europa zu ziehen und noch einmal einen neuen Kontinent kennenzulernen: "Je mehr unterschiedliche Kulturen und Lebensstile ich erlebe, desto mehr nützt es meiner Musik", sagt die gebürtige Südkoreanerin. Ins Cello-Finale würde sie trotzdem gerne kommen - alleine schon, um ein musikalisches Gespräch mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu beginnen.

ARD-Musikwettbewerb , Mo., 2.9., bis Fr., 20. 9., Eintritt bei den ersten Durchgängen frei, Infos: www.ard-musikwettbewerb.de

© SZ vom 02.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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