30 Jahre Lyrik Kabinett:Schatten über dem Festakt

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Kunstminister Bernd Sibler bleibt aus Protest fern

Von Sabine Reithmaier und Antje Weber, München

Eine herrliche, märchenhafte, ja "utopisch anmutende Institution" sei das Lyrik Kabinett, schwärmte der Germanist Frieder von Ammon. Er hatte beim Festabend zu 30 Jahren Lyrik Kabinett am Mittwoch im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität die Moderation übernommen und griff auf der Lob-Klaviatur wohl am kräftigsten in die Tasten. Der "Münchner Lyrik-Lady" oder "Mrs. Poesie", wie der städtische Kulturreferent Anton Biebl die Bibliotheks-Gründerin Ursula Haeusgen nannte, wurde jedenfalls unter großem Applaus vielfach gedankt. Vier eigens angereiste Lyriker, Jürgen Becker aus Köln, Pia Tafdrup aus Dänemark, Uljana Wolf aus Berlin und Adam Zagajewski aus Krakau, dankten ihr dazu mit kurzen Lesungen.

Ansonsten waren an diesem Abend in der LMU und danach beim Empfang im gegenüberliegenden Lyrik Kabinett nicht ganz so viele Dichter zu sehen, wie man hätte erwarten können. Das hängt wohl mit den Umständen zusammen, die den Abend überschatteten, aber beim Wein für Gesprächsstoff sorgten: Die Münchner Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland hatte zuvor ihre Teilnahme in einem offenen Brief abgesagt, weil für die Begrüßung der Schriftsteller-Kollege Michael Krüger vorgesehen war. Dieser hat Siegfried Mauser, dem wegen sexueller Übergriffe verurteilten, ehemaligen Präsidenten der Musikhochschule, zwei Gedichte gewidmet und darin nach Ansicht Müller-Wielands sexuelle Gewalt verharmlost, die Betroffenen verhöhnt und die Kunst missbraucht (SZ vom 23.11.).

Auch der auf der Einladung angekündigte Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Bernd Sibler, blieb der Veranstaltung fern und schickte nicht einmal eine Vertretung für das eigentlich vorgesehene Grußwort. Und das, obwohl er den Beitrag, den das Lyrik Kabinett seit 30 Jahren in der Literaturvermittlung leistet, sehr schätze, wie sein Ministerium am Donnerstag auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung mitteilte. Sibler habe die Diskussion um die Gestaltung der Feier sehr aufmerksam verfolgt und entschieden, nicht teilzunehmen. "Kunstminister Sibler steht für Null Toleranz bei sexueller Belästigung und körperlicher Gewalt und lehnt jede Verharmlosung derartiger Übergriffe ab." Jeder Anschein einer öffentlichen Würdigung von rechtskräftig Verurteilten widerspräche dieser Haltung.

Im offiziellen Teil des Abends thematisierte niemand die schwelende Causa, auch die Absage des Kunstministers fand an keiner Stelle Erwähnung. Für die LMU gratulierte statt der angekündigten Dekanin Beate Kellner die Altphilologin Claudia Wiener. In seinen Dankesworten betonte Lyrik-Kabinett-Geschäftsführer Holger Pils die heute besonders wichtige "Achtsamkeit im Umgang mit Sprache". Michael Krüger selbst, der gesundheitlich angeschlagen ans Rednerpult trat, machte die eine oder andere Andeutung. Er begrüßte neben der "Heiligen Ursula" unter anderen auch "liebe aufmerksame Leserinnen und Leser von Gedichten". Als Krüger die Geschichte des Lyrik Kabinetts Revue passieren ließ - er selbst las 1989 als zweiter Dichter und hatte überhaupt die meisten Veranstaltungen, wie er erwähnte -, lobte er auch, wie "offen" es damals zugegangen sei: "ohne die heute gängigen ästhetischen und moralischen Absolutismen". Das kann, wer sich an die Textinterpretion macht, durchaus als Statement deuten.

© SZ vom 06.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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