25 Jahre Reichstagsverhüllung:Das sanfte Signal

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Jahrzehnte dauerte die Diskussion darüber, ob Christo und Jeanne-Claude das Gebäude im Herzen Berlins verhüllen dürften. Das Ergebnis überraschte die einstigen Kritiker.

Von Jens Bisky

Die Sonne schien, silbrig schimmerte und glänzte der kolossale Bau. Ringsum tummelten sich von morgens bis abends Zehntausende und lächelten, als sei gerade der ewige Frieden verkündet worden. Die Erinnerung verklärt die vierzehn Tage des "Verhüllten Reichstags" Ende Juni, Anfang Juli 1995 zu einem glücklichen Augenblick der Berliner Geschichte. Falsch ist das nicht. Damals erprobten die hauptstädtischen Massen und ihre Gäste eine neue Gelassenheit, ein heiteres Gegenwartsvertrauen, das in den kommenden Jahren das Selbstgefühl der jungen Berliner Republik verändern würde. Selten hat ein Kunstwerk so genau die Stimmung des Moments getroffen, gespiegelt und geformt, wie Jeanne-Claudes und Christos "Wrapped Reichstag. Project for Berlin". Dabei war der Einfall, das Parlamentsgebäude zu verhüllen, bekanntermaßen alt, schon etwas in die Jahre gekommen und bis zuletzt hatte er heftigen Widerspruch provoziert.

1971 hatte der amerikanische, in West-Berlin lebende Historiker Michael S. Cullen dem Künstlerpaar eine Postkarte von Paul Wallots Reichstagsgebäude geschickt und damit die Aufforderung verbunden, es einzuhüllen. Christo und Jeanne-Claude antworteten ihm, dass sie interessiert, aber derzeit mit einem anderen Vorhaben beschäftigt seien. Sie schlugen vor, sich demnächst in Europa zu treffen, um weiteres zu besprechen. Christo war bis dahin noch nie in Berlin gewesen, erst 1976 kam er mit Hilfe des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in die geteilte Stadt, wo sein Projekt vor allem die Befürchtung weckte, das ehrwürdige Bauwerk werde für Reklamerummel und Mummenschanz missbraucht. Zwar fanden sich immer wieder Befürworter, ein "Kuratorium Wrapped Reichstag" wurde gegründet, doch die Zeit verging, die Regierungen wechselten, Christo und Jeanne-Claude verpackten Pont-Neuf in Paris, während in Berlin weiter über das Kunstprojekt diskutiert wurde, ohne dass ein Termin für die Entscheidung darüber festgestanden hätte.

Es waren nicht allein Kleingeist und Vorbehalte gegenüber dieser Art Kunst, die eine Realisierung in den Achtzigerjahren verhinderten, obwohl auch sie eine Rolle gespielt haben dürften. Man konnte Christos Arbeit und seine Beharrlichkeit bewundern, einen Sinn für Festlichkeit wie Ironie besitzen und dennoch gute Gründe dafür anführen, dass das Reichstagsgebäude, das dicht an der Mauer stand, als Objekt für Verhüllungskunst nicht taugte. Der Status der Stadt war politisch befriedet, aber weiterhin umstritten. Die West-Berliner wählten ihre Bundestagsabgeordneten nicht direkt, jede Aktion, jede Geste konnte in der zerschnittenen Stadt große politische Verwerfungen heraufbeschwören. Und noch komplizierter sah es auf dem weiten, zerklüfteten Feld des Symbolischen aus. Wer über Berlin und den Reichstag sprach, redete immer auch über Geschichtsbilder, das Selbstverständnis der Deutschen, die Fragilität der Demokratie.

Mauerfall und Vereinigung vereinfachten das keineswegs, aber nachdem der Bundestag 1991 beschlossen hatte, dass Berlin Hauptstadt und Regierungssitz der neuen Republik werden sollten, als feststand, dass bald, vielleicht schon im Februar 1995, der Umbau des Parlamentsgebäudes beginnen würde, musste eine Entscheidung herbeigeführt werden. Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth befürwortete das Projekt, der Bundeskanzler Helmut Kohl, ebenfalls CDU, lehnte es ab. Am 25. Februar 1994 beriet das Parlament in Bonn die Drucksache 12/6767, "Verhüllter Reichstag - Projekt für Berlin".

Das Argument, die Verhüllung würde den Steuerzahler nichts kosten und zudem Geld bringen, fand FDP-Politiker Burkhard Hirsch stillos.

Die Umhüllung mit Stoff eröffne die Chance, "diesen Bau in seiner Eigenart anders wahrzunehmen", erklärte der Sozialdemokrat Peter Conradi. Die vierzehntägige Verhüllung werde die Sicht schärfen, erlaube "Erkenntnis durch Verfremdung" und koste den Steuerzahler nichts. Gerade dieses Argument und die Verheißung, die Besucher würden in Berlin 500 Millionen DM ausgeben, fand Burkhard Hirsch von der FDP "stillos". So gehe man mit einem politischen Symbol wie dem Reichstag nicht um: "Es sollte und es muss in unserem Land noch Dinge geben, die für private Vergnügungen nicht zur Verfügung stehen. Es ist wichtig, dass der Reichstag dazugehört." Am schärfsten attackierte Wolfgang Schäuble das Vorhaben. Christos Kunst habe ihn durchaus beeindruckt, aber der Reichstag sei eben nicht Pont-Neuf, sondern "ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen und die Tiefen unserer Geschichte repräsentiert", er sei "steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert". Schäuble erinnerte an Philipp Scheidemann, der vom Reichstagsgebäude aus 1918 die erste freiheitlich deutsche Republik ausgerufen hatte, an den Reichstagsbrand, der den Nationalsozialisten den Vorwand für das Ermächtigungsgesetz lieferte, an die Rotarmisten, die 1945 auf dem Dach die Sowjetflagge hissten, an die Bundestagspräsenz an dieser Stelle während der Teilungsjahre. Mit einem Symbol wie diesem sollte man sorgsam umgehen.

Dem widersprach direkt und scharf der Sozialdemokrat Freimut Duve. Von der Verhüllung könne "ein sanftes Signal" ausgehen, ein "Moment der Entspanntheit", des "heiteren Umgangs" tue gut. Das gebe andere Fernsehbilder als die aus Rostock und Mölln. In namentlicher Abstimmung votierten 223 Abgeordnete gegen die Verhüllung, 292 dafür. Es schlug die Stunde der Logistik, der Organisation. Im Juni 1995 brachten Arbeiter die Bahnen aus aluminiumbedampftem Polypropylengewebe an, rollten sie ab und verschnürten das Ganze mit einem blauen Kunststoffseil. Ende Juni, Anfang Juli kamen fünf Millionen Menschen zum verhüllten Parlamentsgebäude. Ob sie an Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte dachten? Oder an die gar nicht so schwachen parlamentarischen Traditionen im Lande? Oder ob sie einfach nur das Spektakel - umsonst und draußen - nicht verpassen wollten? Jeder fand vor dem Symbol, was er suchte, Straßenkünstler traten auf, Musiker aus halb Europa. Vielen, die das Ereignis anfangs skeptisch betrachtet hatten, ging es wie der Schriftstellerin Monika Maron, die sich vom vierzehntägigen Verhüllungsfest verzaubern ließ: "Plötzlich steht inmitten der missmutigen Umtriebigkeit, verlockend und flüchtig wie eine Fata Morgana, Christos verhüllter Reichstag, und die Berliner tun etwas, was der Senat seinen öffentlichen Bediensteten in Fortbildungskursen vergebens beizubringen versucht: Sie lächeln. Alles, was man ihnen vorwirft, nicht zu sein, sind sie innerhalb der Bannmeile rund um den Reichstag, großstädtisch, friedfertig, gelassen, sogar höflich, als benutzten sie die Verhüllung als Projektionsfläche für alles, was sie an ihrer Stadt und sich selbst vermissen."

Die New York Times erklärte das Kunstwerk zum "Symbol für das neue Deutschland", Le Figaro schrieb: "Christo versöhnt die Deutschen mit dem Reichstag". Christo erklärte, alle Interpretationen seien richtig. In erster Linie war es ein Fest, auf dem viele die unmittelbare Freude genossen, sich in eine bessere Version ihrer selbst zu verwandeln. Das Fest war inklusiv, nicht polemisch. Als es zu Ende ging und auf der Straße des 17. Juni die Tieflader darauf warteten, das silberne Gewebe abzutransportieren, trafen sich Hunderttausende heiter, exzessiv gelassen zum nächsten Berliner Großereignis: der Loveparade. Das Motto des Jahres 1995: "It's Our Future".

© SZ vom 05.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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