Nachruf:Kunst der Raumdeutung

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Die bedeutende Architekturfotografin Sigrid Neubert ist gestorben. Sie besaß ein besonderes Gespür für das Zusammenspiel von Licht und Schatten.

Von Gerhard Matzig

Die Architekten der Nachkriegsmoderne, darunter Größen wie Günter Behnisch, Kurt Ackermann oder Karl Schwanzer, begegneten dieser jungen Frau mit Respekt. Sie verehrten sie seit den männlich dominierten Fünfzigerjahren, obschon sich da am Bau nicht viel verändert hat, aber nicht als junge Frau, sondern als jemand, der die Werke der Baukunst mit einer Tiefe verstand und mit einer Leidenschaft abbildete, wie das in der Geschichte der Architekturfotografie nur wenigen Ausnahmetalenten gelungen ist.

Sigrid Neubert hat das BMW-Museum in München im Jahr 1973 fotografiert, sein Architekt ist Karl Schwanzer. (Foto: Sigrid Neubert / Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek)

Dabei sollte die 1927 in Tübingen geborene Sigrid Neubert nach dem Willen der Eltern Medizin studieren. Doch sie entschloss sich zu einer Lehre an einem Institut, für das man Bayern in all seinem monarchistisch-bürokratischen Furor dankbar ist. Die Bayerische Staatslehranstalt für Lichtbildwesen verlieh der Fotografin Sinn für handwerkliches Können und konzeptionelles Denken - sowie den Meistertitel. Die Kreativität hat man ihr in der Anstalt glücklicherweise nicht ausgetrieben. Schon 1953 wurde eine frühe Arbeit von Sigrid Neubert im Museum of Modern Art in New York gezeigt - in der Ausstellung "European Postwar Photography".

Die Fotografin, hier mit ihrem Arbeitsgerät im Jahr 1978, wurde 91 Jahre alt. (Foto: Sigrid Neubert/Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek)

Das Nachkriegsmoment der Zuversicht, diese Lust am Morgen, um den Nachwirkungen des alle Gegenwart zermalmendenden Krieges zu entrinnen: Das machte sie zu einer idealen Weggefährtin jener Architektur, die sich vom Staub der Trümmerfelder befreite. Schnell wurde sie bekannt als Expertin, die sich intensiv mit dem gebauten Werk auseinandersetzt und ein besonderes Gespür besitzt für das Zusammenspiel von Licht und Schatten, um das räumlich Besondere der Architektur abzubilden. Als Interpretin der Nachkriegsmoderne wurde sie rasch zu einer Institution. Zu einem weiblichen, vor allem aber auch zu einem deutschen Julius Shulman. Doch anders als ihr berühmtes amerikanisches Vorbild der klassischen Moderne inszenierte Sigrid Neubert nicht nur ein Lebensgefühl in ihren suggestiven, markanten Schwarzweiß-Aufnahmen, sondern sie porträtierte das Bauen auch als das, was es in seinen glücklichsten Momenten ist: Raumdeutung.

Aktuell ist seit einigen Tagen eine bemerkenswerte Doppelschau der Architekturfotografin zu sehen, die sich später zunehmend mit der Natur auseinandersetzte. Die Retrospektive "Architektur und Natur" wird von der Alf Lechner Stiftung in Ingolstadt und Obereichstätt noch bis zum 10. Februar gezeigt. Zu sehen sind dort 230 Aufnahmen der großen Fotografin, die nun, kurz nach der Eröffnung der Retrospektive, im Alter von 91 Jahren bei Berlin gestorben ist.

© SZ vom 17.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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