Nachruf:Kühle Hitze

Lesezeit: 3 min

Sängerin, Schauspielerin, Star: Gisela May als Mutter Courage am Berliner Ensemble 1978. (Foto: dpa)

First Lady des politischen Liedes: Die legendäre Schauspielerin und Sängerin Gisela May, geliebt im Osten wie im Westen, ist im Alter von 92 Jahren gestorben.

Von Jens Bisky

Hosenanzug, Pagenkopf, wenige, beherrschte Gesten, eine Stimme, die man sofort wiedererkennt, textsicher, effektsicher, diszipliniert bis in die Schuhspitzen - das war "die May", wenn sie sang, Lieder von Hanns Eisler oder Kurt Weill, Texte von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Erich Kästner. So diszipliniert, angelernt preußisch sie auftrat, sie wirkte dabei nicht abweisend, vielmehr kühl zugewandt, witzig, von kecker Sinnlichkeit oder so unterkühlt, dass dem Publikum heiß werden konnte. Sie hatte etwas zu sagen, es war ihr nicht gleichgültig, was sie sang, was sie spielte. Sentimental war sie nie.

Oft hat man Gisela May mit Milva oder Jeanne Moreau verglichen, dabei waren keine schiefen Vergleiche nötig, um sie bekannt zu machen. Sie war nicht nur weltberühmt am Berliner Ensemble, die DDR-Diva wurde gefeiert an der Scala, in der Carnegie Hall, auf Gastspielreisen durch Europa, Amerika, Australien.

Im hessischen Wetzlar war sie 1924 in eine Theaterfamilie geboren worden: der Vater Dramaturg und SPD-Mitglied, die Mutter Schauspielerin und in der KPD. Sie wuchs in Leipzig auf, wo sie eine "Höhere Mädchenschule" besuchte, dann an der Theaterschule die Schauspielkunst lernte. Nach dem Krieg spielte sie in Schwerin und Halle, kam an Wolfgang Langhoffs Deutsches Theater. Als sie auf einer Matinee einen Weill-Song interpretierte, fiel sie Hanns Eisler auf, der ihre Art mochte, sich ganz in den Dienst des Werks, seines Gehalts zu stellen. Er arbeitete mit ihr, schulte ihre Stimme, wie er auch den jungen Wolf Biermann gefördert hat. 1962 kam sie an das Berliner Ensemble, das dreißig Jahre ihre künstlerische Heimat blieb. In der Nachfolge Helene Weigels übernahm sie die Titelrolle in Brechts "Mutter Courage" und spielte sie tapfer dreizehn Jahre lang.

Ihr Gesang war immer gekonnt, wirkte vollkommen und wie aus einer früheren Welt

Groß wurde sie als Diseuse, die vom Text ausging, den die Musik interpretierte. Wer sie einmal etwa Tucholskys Chansons hat singen hören, sei es "Der Graben" , "Muttern Hände" oder "Das Leibregiment", dem schienen ihre Darbietung, ihre Auffassung leicht die allein möglichen zu sein. Es waren definitive, modellhafte Interpretationen von besonderer Künstlichkeit. Man höre, wie sie im "Lied von der Moldau" (Brecht/Eisler) "Prag" intoniert, als setze sie zu Koloraturen an. Das gesangliche Mittel wird ausgestellt, Virtuosität versprochen. So wird jene Sentimentalität, die zu Beginn des Liedes aufgerufen scheint, wie die Melancholie des Nachsinnens über den Wandel der Zeiten konterkariert. "Pra-a-ag", das deutet bei der May beinahe ein Trompetensignal an: Aufgewacht! Dies zu tun, aber nur andeutend, das gehörte zu ihrer faszinierenden Kunst.

Ihr Gesang war immer gekonnt, wirkte vollkommen und wie aus einer früheren Welt. Mit der tatsächlichen DDR hatte das wenig zu tun. Als deren Staatskünstlerin ist Gisela May oft bezeichnet worden, nicht zu Unrecht. Aber sie hatte sich eine Position erarbeitet, die es ihr erlaubte, auch im Umgang mit den Funktionären ganz Diva zu sein und etwa dafür zu sorgen, dass ein Kürzel, das in den USA niemandem etwas sagte, auf den Plakaten für ihre Auftritte dort fehlte: das Kürzel DDR.

Nach dem Ende ihrer ersten Ehe lebte sie lange mit einem der klugen, scharfen Kritiker der SED zusammen, mit dem Philosophen Wolfgang Harich, der für seine politischen Überzeugungen nach 1956 mehrere Jahre ins Zuchthaus gesperrt worden war.

Sie trat gleichermaßen in "Die sieben Todsünden der Kleinbürger" und in "Hello Dolly" auf, erfreute die West-Berliner 1988 als Fräulein Schneider in "Cabaret". 1992 kündigte ihr das Berliner Ensemble, man nahm sich dafür nur wenige Minuten Zeit. Die Kränkung saß, aber Gisela May blieb die May - sie jammerte nicht, sie arbeitete. In der Fernsehserie "Adelheid und ihre Mörder" übernahm sie die Rolle der Rosa Müller-Graf-Kledditsch und wurde dafür im Osten wie im Westen geliebt. Berühmt wurde der Dialog mit ihrer Serientochter Evelyn Hamann: "Sag doch nicht immer Muddi zu mir!" - "Ist recht, Muddi".

Nachdem Claus Peymann das BE übernommen hatte, gab sie dort wieder Kurt-Weill-Abende, sämtlich ausverkauft. Ja, sie füllte weiter Säle, begeisterte. Am Freitagmorgen ist Gisela May im Alter von 92 Jahren gestorben.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: