Fotografie:Die spezielle Obsession

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Wann werden kommerzielle Bilder zu Kunst, wann bleiben sie Massenware? In einer Kölner Ausstellung mit Funden aus dem Agfa-Archiv lässt es sich gut ablesen.

Von Michael Kohler

Reklamefotos zeigen nicht die Wirklichkeit, sondern die Welt als Wunschvorstellung - und das verrät im Umkehrschluss dann doch wieder einiges über die Wirklichkeit. Aber was sollen uns die Bilder sagen, mit denen Agfa, damals Europas größter Hersteller von Fotofilmen, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren den deutschen Amateurfotografen umwarb? Der war männlich, verheiratet und schoss Bilder fürs Familienalbum. Auf der Agfa-Reklame sieht man jedoch weder spielende Kinder noch stolze Eltern, sondern Bikini-Schönheiten, die den Fotografen anstrahlen, und unbeschwertes Urlaubsglück zu zweit. Glaubt man Agfa-Color, träumten die Deutschen davon, sich paarweise am Strand vor Bulldozern zu rekeln oder mit einem Strauß bunter Luftballons durch Winterlandschaften zu sausen.

Rund 40 Jahre schlummerte das Agfa-Archiv kaum beachtet in einem Lager des Kölner Museums Ludwig - bis sich die niederländische Künstlerin Fiona Tan dieses in Kisten vergrabenen Bilderkosmos' annahm. Unter dem Titel "GAAF", niederländisch für "sauber" oder "makellos" und ein Agfa-Anagramm, präsentiert sie eine Auswahl farbiger Werbebilder, mit denen namenlose Berufsfotografen nicht nur die Sehnsucht nach ewigen Flitterwochen und verspielter Sexualität bedienten; die Reklamefotos befeuerten als professionell angefertigte Vorlagen für Fotoamateure auch die kollektive Wunschbildproduktion.

Unschuldige Spiele im Kiesbett: So bewarb Agfa in den Fünzigern und Sechigern seine Filme. (Foto: Archiv Museum Ludwig)

Am Beispiel Agfa zeigt sich, dass Reklamefotos und andere Gebrauchsfotografien mehr sind als Zeitdokumente; dass es oft Zufall ist, ob ihre ästhetischen Qualitäten gewürdigt werden; und dass auf jede Entdeckung in diesem Feld etliche Arbeiten kommen, die durchs Raster fallen, weil sie die Kriterien der Kunstwelt nicht erfüllen. Das liegt einerseits in der Natur der Sache, weil die Fotografie im überwiegenden Teil ihrer Geschichte keine Kunst, sondern Kunstgewerbe, Journalismus, Wissenschaft oder privates Vergnügen war. Andererseits geht durch die Verengung der Fotografie auf das Künstlerische gerade deren Besonderheit verloren: eine anonyme und demokratische Kultur zu sein, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt und deren Leben widerspiegelt.

Sieht man die Klassiker der Fotogeschichte durch, trifft man überall auf Autodidakten, Enthusiasten oder Auftragsarbeiten: Eugène Atget schuf Vorlagen für Maler, Edward S. Curtis betrieb ethnologische Studien, Walker Evans dokumentierte in staatlichem Auftrag das Leben im ländlichen Amerika während der Great Depression; Robert Capa und Henri Cartier-Bresson waren Pressefotografen, Edward Steichen, Irving Penn und Richard Avedon arbeiteten für Modemagazine.

Und August Sander, der frühe Begründer der fotografischen Konzeptkunst, fütterte seinen monumentalen Bildatlas der "Menschen des 20. Jahrhunderts" teils mit Porträts, die er für die Laufkundschaft seines Kölner Fotostudios anfertigte. Heute macht es am Kunstmarkt einen gewaltigen Unterschied, ob Sander ein Motiv in seine soziologisch vorsortierten Menschen-Mappen aufnahm oder nicht. Im ersteren Fall erzielt der Abzug Höchstpreise, im anderen ist er ein besseres Abfallprodukt.

Der Fotograf als Künstler, das war bis in die Achtzigerjahre die große Ausnahme

Der Fotograf als freier Künstler - das war bis weit in die Achtzigerjahre die große Ausnahme. Doch die Einordnung der Fotografie als "niedere" Volkskunst hatte gerade in den USA auch ihr Gutes. So baute das New Yorker Museum of Modern Art früh eine bedeutende Fotografieabteilung auf, deren Leiter die gesamte Bandbreite der fotografischen Produktion abbilden wollten.

John Szarkowski, von 1962 bis 1991 Fotokurator am MoMA, sah in der Fotografie eine kollektive Fantasie, aber ihm ging es zugleich darum, deren große "Autoren" zu identifizieren und im allgemeinen Kunstkanon zu etablieren - was ihm etwa mit Diane Arbus, Lee Friedlander oder William Eggleston auch gelang.

Seit dem internationalen Durchbruch der Düsseldorfer Fotoschule um Andreas Gursky hat sich auf dem Kunstmarkt eine Dreiklassen-Gesellschaft etabliert: An der Spitze rangiert die vom klassischen fotografischen Selbstverständnis abgekoppelte Fotokunst, darunter die Autorenfotografie und schließlich die anonyme Masse der Gebrauchsware.

Eine weitere Werbeaufnahme von Agfa aus den 1950/60er Jahren. (Foto: Archiv Museum Ludwig)

Allerdings lebt diese Klassengesellschaft von ihrer Durchlässigkeit nach oben. Immer wieder entdeckt der Kunstmarkt besondere Qualitäten in einem Gebrauchsfotografen: einen unverwechselbaren Stil, ein wiederkehrendes Motiv, eine spezielle Obsession. So kam der Schweizer Polizeifotograf Arnold Odermatt nach gut 50 Dienstjahren mit seinen Unfall- und Tatortbildern zu spätem Ruhm; der lange vergessene Porträtfotograf Karl Schenker wird heute wieder für seine unheimlichen Retuschen geschätzt und selbst die anspruchslosen, in einem Koffer gefundenen Amateurfotos, die der Geschäftsmann Günter K. von der Affäre mit seiner Sekretärin Margret machte, sind als Außenseiterkunst gefragt.

Als amerikanische Zeitungen ihre Bildarchive auflösten, herrschte Goldgräberstimmung

Auch im Agfa-Archiv finden sich Aufnahmen, die den heutigen Geschmack auf gespenstische Weise vorwegnehmen. Der Vogelblick auf einen Hotelkomplex wirkt wie früher Andreas Gursky, die Aufnahme schier endloser Archivregale könnte auch von Candida Höfer sein, und der Fotograf einer von Neonröhren vernebelten Agfa-Vertriebshalle scheint die Fotoindustrie bereits zum Umschlagplatz künstlerischer Möglichkeiten stilisieren zu wollen. In der Kölner Ausstellung gibt es keine Hinweise auf die Urheber und ihre Intentionen, und selbst im Archiv fanden sich bislang keine Indizien darauf, ob diese Bilder Zufallsprodukte oder Teile eines Werkkomplexes sind. Sollten noch welche auftauchen, werden sie entscheidenden Einfluss auf den Marktwert der Fundstücke haben.

Als viele US-Zeitungsverlage im Zuge der Digitalisierung ihre Fotoarchive auflösten, kam auf dem Feld der Gebrauchsfotografie vorübergehend Goldgräberstimmung auf. Spezialisierte Händler hatten Millionen anonyme Abzüge zu Einheitspreisen bei Ebay eingestellt, mit Geduld und etwas Glück konnte man Abzüge von Klassikern wie Lewis Hine oder Weegee zu Spottpreisen erstehen. Oftmals stellte sich dabei für Sammler die heikle Frage: Soll man die Aufnahme eines unbekannten Fotografen kaufen und hoffen, dass sich hinter dem hervorragenden Einzelbild ein noch zu entdeckendes Werk verbirgt?

Alles spricht dafür, dass nicht nur die Fotografiegeschichte voller ungehobener Schätze ist, sondern auch die Gegenwart mit ihren Internet-Bildagenturen, bei denen jeder Smartphone-Besitzer Aufnahmen zur gewerblichen Nutzung hochladen kann. Doch wer sichtet die digitalen Pinnwände auf der Suche nach dem nächsten Klassiker?

GAAF. Museum Ludwig, Köln. Bis 11. August. Katalog 16,80 Euro.

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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