SZ-Werkstatt:Was hat sich für die SZ seit Relotius geändert?

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Holger Gertz schildert, wie er seine Recherche dokumentiert, während er recherchiert.

Hat sich der Spiegel-Skandal um Claas Relotius auf die Arbeit in der SZ-Redaktion ausgewirkt?

Sammy-Jo Wooley , Köln

Holger Gertz, 51, ist Seite-Drei-Reporter, zudem Dozent an der Deutschen Journalistenschule und der Akademie für Publizistik in Hamburg. War noch nie auf Kiribati, wollte dafür mal nach Nauru – das gab leider der Reiseetat nicht her. (Foto: SZ)

Am Fall Relotius macht mich noch immer alles fassungslos, auch die Kiribati-Episode. Zur Erinnerung: Der Spiegel-Reporter Claas Relotius sollte für eine Story nach Kiribati fliegen. Kiribati, ein Traum: Jeder Reporter will doch genau dahin, wo praktisch niemand war - um den Leuten zu erzählen, wie es da so ist. Aber dann, so stand es im Spiegel-Abschlussbericht, war Relotius gar nicht auf Kiribati, sondern hat die Kiribatipassagen erfunden, wie er alles Mögliche erfunden oder zusammengeklebt hat, in seinen auf Preiswürdigkeit getrimmten und von den Juroren gefeierten Erzählungen.

Wie belegen wir Reporter und Reporterinnen bei der SZ, dass das, was im Text steht, wirklich stattgefunden hat? Ich zum Beispiel nehme nach Möglichkeit alle Gespräche auf, mitschreiben reicht nicht. Ein Gespräch auf Band zu haben bedeutet: Ich kann wortgetreu zitieren. Ein Gespräch auf Band zu haben bedeutet aber auch: Der Gesprächspartner existiert. Auch das hat Relotius bewirkt: dass wir sogar das Selbstverständliche inzwischen belegen müssen.

Ich dokumentiere meine Recherche, während ich recherchiere: fotografiere Unterlagen, Urkunden, sogar Klingelschilder. Alles was ich festhalte, ist nicht nur Gedankenstütze, sondern auch Beleg. Bevor ich Zitate von anderen übernehme, besorge ich mir nach Möglichkeit den Originaltext, in dem das gesagt worden ist. Die Mitarbeiter des SZ-Textarchivs sind mir nicht nur da eine unersetzbare Hilfe, sie haben einmal sogar über Ebay ein uraltes Magazin organisiert, weil da ein Interview drinstand, was nirgendwo sonst zu kriegen war.

Der Skandal um den Reporter Relotius hat sich auf die Arbeit aller Reporter ausgewirkt. Denn Relotius hat es geschafft, dass manche Leser glauben, heutzutage würden sich alle Reporter alles ausdenken. Tatsächlich werden Reporter heutzutage so streng kontrolliert wie nie, von sich selbst, von den Fakten-Checkern in der Redaktion, von der Öffentlichkeit. Wenn ich eine Person erfände, liefe ich Gefahr, jederzeit aufzufliegen. Leser könnten im Netz nach Spuren dieser Person suchen und sich fragen, warum sie nichts finden; Kollegen könnten die Mailadresse der Person haben wollen. Wenn ich jemandem ein Zitat in den Mund legte, könnte der Zitierte mich bei Twitter entsprechend zusammenfalten dafür. Protagonisten einer Geschichte könnten in den sozialen Medien und also vor aller Augen alles dementieren, was ich behauptet habe. Manchmal bringen Interviewte mittlerweile ein eigenes Diktiergerät mit, um sicherzustellen, dass der Interviewer sie später nicht falsch zitiert. Das alles hat es früher nicht gegeben.

Dennoch, auch früher haben die allermeisten Reporter und Reporterinnen sauber gearbeitet. Weil die allermeisten Reporter und Reporterinnen wissen: Eine erfundene Geschichte ist wertlos, komplett für die Tonne. Relotius ist dieser Instinkt verloren gegangen. Aber Relotius war die Ausnahme, nicht die Regel.

Holger Gertz

(Foto: N/A)
© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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