SZ-Werkstatt:Reporter vor dem Fernseher

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Dirk Gieselmann berichtet auf SZ.de von den Spielen der deutschen Nationalmannschaft. Für seine Liveticker, die er nicht aus dem Stadion, sondern vom Sofa aus verfasst, nimmt er die Rolle eines Fans ein und fragt sich ständig: Wie fühle ich mich?

Von Dirk Gieselmann

Ich berichte im Liveticker auf SZ.de von den Spielen der deutschen Nationalelf bei der WM in Russland. Ich sitze dafür nicht im Stadion, sondern daheim vor dem Fernseher, damit ich auch den medialen Rahmen des Ereignisses abbilden kann. Etwa die Wortbeiträge der Kommentatoren, der sogenannten Experten und der Spieler, die gleich nach dem Abpfiff eine Antwort auf die Frage finden müssen: "Wie fühlen Sie sich?"

Das ist übrigens dieselbe Frage, die ich mir im Liveticker auch selbst stelle. Wie fühle ich mich? In dem Fall weniger als Journalist. Ich nehme die Rolle des Fans ein, zu dem ich, trotz inneren Widerstrebens, bei großen Turnieren immer wieder werde. Als solcher bin ich von Mentalitäts wegen auf Enttäuschungen gefasst. Und doch möchte ich mich allzu gern vom Gegenteil überzeugen lassen und für eine verbotene Nacht, nach dem siegreichen Finale, mit den Nachbarn eine Weltmeisterpolonaise im Vorgarten tanzen. Der Liveticker auf SZ.de ist auch als Tagebuch des an sich selbst leidenden, auf Erlösung hoffenden Fans gedacht.

Doch zurück zu meinem Fernseher: Ich habe ihn mir eigens für diese WM angeschafft, den letzten hatte ich mir vor 25 Jahren von meinem Konfirmationsgeld gekauft. Als ich ihn in die Wohnung trug, brachen meine Kinder in Jubelstürme aus. "Na gut", sagte ich. "Ihr dürft nachher noch das Sandmännchen schauen." - "Papa!", riefen sie daraufhin, "wir haben dich sooo lieb!" Ich wusste, dass sie weniger mich als den Fernseher meinten. Als ich das Gerät endlich programmiert hatte, war es zu spät für das Sandmännchen. Immerhin lief noch eine Tier-Dokumentation. Das erste Bild, das über den neuen WM-Fernseher flimmerte, zeigte einen Löwen, der ein Zebra reißt. Ich wertete das als kein sonderlich gutes Omen für dieses Turnier.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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