Lothar Müller berichtet, wie es in Messezeiten in der Literaturredaktion zugeht:
In den Tagen vor einer Buchmesse rückt der Kollege Prokrustes in den Vordergrund. Mit nie erlahmendem Eifer stürzt er sich in die Produktion der Literaturbeilage. Am Donnerstag hat er inmitten des Stimmengewirrs, das der Literaturnobelpreis für Bob Dylan auslöste, wie immer stoisch und gewissenhaft sein Messerset auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Mit großer Umsicht passt er die eingehenden Texte, die meist zu lang sind, in die vom Layout angelegten Artikelmuster ein. Bei geringem Übersatz zückt er elegant das kleine Obstmesser, wenn sehr viel Text heraushängt, greift er schon mal zum Fleischermesser. Und wo ein Untersatz gähnt, da zieht er das Buchstabenband durch kleine Einfügungen, die sich in Stil und Gehalt chamäleonhaft dem vorgegebenen Text anpassen, ein wenig in die Länge.
Währenddessen warten die Blindtexte darauf, ersetzt zu werden. Eigentlich passen sie sehr gut zu einer Literaturbeilage. Denn sie sind wunderbar poetisch und beginnen, damit die Leser sich nicht erschrecken, falls sie aus Versehen einmal gedruckt werden, mit einer sehr höflichen Selbstvorstellung: "Ich bin Blindtext von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein: Man macht keinen Sinn." Noch nie hat der Kollege Prokrustes einen Blindtext gekürzt; denn ein Blindtext ist nie zu lang. Dafür korrigiert er gern. Auch das Korrektursystem passt gut zu Literaturbeilagen. Bei Wörtern, die es nicht kennt, macht es sehr originelle Korrekturvorschläge. Neulich kannte es den Namen "Derrida" nicht, der in einer Sachbuchrezension vorkam. Aber es hatte eine begründete Vermutung, was gemeint sein könnte: "Dreirad".