SZ-Serie "Akteneinsicht":Wie wilde Tiere

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Randalierende deutsche Hooligans vor dem Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen Jugoslawien in Lens. (Foto: dpa)

Vier deutsche Hooligans sollen den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 halb tot geprügelt haben. Einige Zeugen erscheinen erst gar nicht vor Gericht. Anderen wird nicht geglaubt.

Von Hans Holzhaider

Diese Reportage erschien am 4.November 1999 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung . Als "Akteneinsicht" werden in den Feiertagsausgaben der SZ Berichte über große Prozesse der vergangenen Jahrzehnte nachgedruckt, versehen mit einer aktuellen Einordnung. Diese Text wurden in der Rechtschreibung ihrer Entstehungszeit belassen und gekürzt.

Essen, 3. November - Ein Prozess geht zu Ende, der die Gemüter in Deutschland bewegt hat wie kaum ein zweiter in den letzten Jahren. Jeder hat die Fotos gesehen: Der französische Gendarm Daniel Nivel, lang hingestreckt auf dem Pflaster der Rue Romuald Prévost in der nordfranzösischen Stadt Lens; die Blutlache unter seinem Kopf. Millionen haben Anteil genommen am Schicksal des 44-jährigen Polizisten und seiner Familie: Sechs Wochen im Koma, für den Rest seines Lebens aufs Schwerste behindert. Schneller als erwartet wurden vier der mutmaßlichen Täter identifiziert. Seit Anfang Mai stehen sie in Essen vor Gericht: André Z., Frank R., Tobias R., Christopher R.. Der Druck der öffentlichen Meinung auf diesen Prozess ist stark. Aufmerksam wird im Ausland verfolgt, wie die deutsche Justiz mit diesen - noch immer mutmaßlichen - Tätern umgeht. Unvorstellbar, wenn sie freigesprochen würden. Aber das Gericht kann keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen. Es gelten das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung, sonst nichts. Jedem Angeklagten muss seine individuelle Schuld nachgewiesen werden. Geurteilt werden muss mit dem Kopf, nicht mit dem Bauch.

Jedem Angeklagten muss seine individuelle Schuld nachgewiesen werden

Nach sechs Monaten und dreißig Verhandlungstagen hat sich im Schwurgerichtssaal des Essener Landgerichts Ernüchterung breitgemacht. Kaum etwas ist schwieriger präzise zu ermitteln als die Handlungen einzelner Personen in einer gewalttätigen Menge. Hooligans, wie sie an jenem 21. Juni 1998 in Lens aufgetreten sind, haben gewiefte Taktiken entwickelt, um sich dem Zugriff von Polizei und Justiz zu entziehen. Schnelle Ortswechsel, schnelles Zuschlagen, schneller Rückzug. "Einer tritt ein paarmal zu, verschwindet dann wieder in der Menge", hat einer der "szenekundigen Beamten", die von der deutschen Polizei damals nach Lens geschickt wurden, dem Gericht geschildert. Er hatte beobachtet, wie die Hooligans auf der Hauptstraße von Lens einen brasilianischen Kameramann niederprügelten. Aus Angst, er könnte als Polizist erkannt werden, drückte er sich in einen Hauseingang. Keinen einzigen der Täter hätte er namhaft machen können.

Woher also die Beweise nehmen, die nötig wären, um die vier Angeklagten zu verurteilen? Von einer "Beweisaufnahme, die keine war", hat der Vorsitzende Richter Rudolf Esders einmal gesprochen. Allzu viele Zeugen haben nicht ausgesagt: Daniel K. zum Beispiel, den sie den "Bochumer" nannten, der unmittelbar neben Tobias R. stand, als dieser, der Anklage zufolge, seinen Fuß auf Nivels Kopf krachen ließ. Niemand weiß, von welchen Seiten möglicherweise Druck auf den Zeugen K. ausgeübt wurde, damit er die Aussagen, die er bei der Polizei machte, vor Gericht nicht wiederholte. Ein knappes Dutzend anderer deutscher Hooligans verweigerte die Aussage, alle mit der nicht zu widerlegenden Begründung, dass sie sich möglicherweise selbst belasten würden, wenn sie die Wahrheit sagten. Nicolas P. , der Franzose, der auf einem Bild zu sehen ist, wie er vom Tatort davonspurtet, war schon nach Essen angereist, als er es sich anders überlegte und seinen Anwalt mitteilen ließ, er wolle lieber doch nichts sagen. Die drei englischen Zeugen, die das Geschehen aus nächster Nähe aus ihrem Auto heraus beobachtet haben, reisten gar nicht erst an, aus Angst vor Racheakten. Einer von ihnen sagte bei einer Vernehmung in England den Satz: "Die ganze Situation strahlte eine Gewalt aus, wie sie sonst nur von wilden Tieren ausgeht."

Andere Zeugen waren aussagebereit, aber sie wussten nichts von Bedeutung: Nichts genau gesehen, niemanden erkannt. Auch der zehnjährige Mathieu, der kurz vor dem Überfall noch mit Daniel Nivel Fußball gespielt hatte, konnte dem Gericht nicht weiterhelfen. Er hat nur einen der Hooligans identifiziert, und der wartet in Frankreich auf seinen Prozess.

Einer aber hat alles gesehen, hat ausgesagt, eindeutig, präzise, detailliert, und hat alle vier Angeklagten schwer belastet. Walter S. , zum Zeitpunkt des Geschehens 17 Jahre alt, hat einen Teil der Fotos geschossen, mit deren Hilfe die mutmaßlichen Schläger von Lens überhaupt erst identifiziert werden konnten. Er ist freiwillig nach Essen gekommen. Walter S. ist Österreicher, kein deutsches Gericht hätte ihn zitieren können. Er hat sich durch seine Aussage zweifellos in eine schwierige Lage gebracht. Er war in der Hooliganszene geduldet, er lieferte den Schlägern die Fotos ihrer Heldentaten, mit denen sie dann vor den anderen prahlen konnten. Walter S. muss sich jetzt einen anderen Erwerbszweig suchen. Er wurde in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen; wenn sie ihn erwischen, würde es ihm nicht gut ergehen. Warum also hätte er lügen sollen?

Einer habe mit dem Teil eines zerbrochenen Holzschildes zugeschlagen, vier Mal

Aber mit der Zeugenaussage des Österreichers hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Walter S. wurde am 6. Mai angehört, es war der dritte Verhandlungstag. Er wurde, zu seinem persönlichen Schutz, von vier Kriminalbeamten begleitet. Er schilderte, auf Fragen des Gerichts, im Detail die Tatbeiträge aller vier Angeklagten, wie er selbst sie gesehen habe: Tobias R. habe gleich am Anfang zugeschlagen, und dann auf den am Boden liegenden Nivel eingetreten: "Mehrmals im Kopf-, Hals- und Brustbereich, sowohl von oben wie von der Seite." R. habe den Gendarmen in Bauch und Brust getreten. R. habe mit dem Teil eines zerbrochenen Holzschildes zugeschlagen, viermal: "Flach, Kante, Kante, flach". Zum Schluss sei Z. gekommen, habe den eisernen Gewehraufsatz Nivels aufgehoben, habe gerufen: "Macht Platz, lasst mich mal", habe dann dreimal "draufgeschlagen, im Kopf- und Halsbereich, einmal sehr fest".

Stürzten sich nun die Verteidiger auf den Zeugen wie eine hungrige Meute? Versuchten sie, ihn in Widersprüche zu verwickeln? Sie taten nichts dergleichen. Keine einzige Frage an den Zeugen S. kam von der Verteidigerbank. Alle Verteidiger verzichteten auf eine nochmalige Vorladung. Nun ist es eine alte Verteidigerweisheit, dass zu vieles Fragen tödlich sein kann. Aber wenn, wie hier, einer Zeugenaussage so zentrale Bedeutung zukommt, wenn, wie im Fall Christopher R., der Zeuge als einziger überhaupt den Angeklagten als Täter identifiziert hat, dann wäre es ein kardinaler Fehler der Verteidigung, diesen Zeugen nicht nach allen Regeln der Kunst in die Mangel zu nehmen. Es sei denn, das Gericht hätte signalisiert, dass von diesem Zeugen keine Gefahr für die Angeklagten ausgehen werde.

Und in der Tat, es hat solche Signale gegeben. Siegmund Benecken, der Verteidiger Frank R.s, hat das in seinem Plädoyer bestätigt. "Wir haben", sagte Benecken, "an den Zeugen S. keine Nachfragen gestellt." Der Vorsitzende Richter Esders, so Benecken weiter, habe mit dem Satz: "Haben Sie denn Nachfragen noch nötig?" zu erkennen gegeben, dass das Gericht S. nicht für glaubwürdig halte. Esders hat sich ein zweites Mal in diesem Sinn geäußert.

Die Verteidigung hat diesen Ball gern aufgenommen. "Ein Taugenichts" sei der Zeuge S. , sagte Anwalt Benecken in seinem Plädoyer, und allein schon die "übertriebene Bestimmtheit" in der Aussage des Österreichers sei ein "klassisches Lügensignal". Wenn das zuträfe, dann wären allerdings Taten, die aus einem gewalttätigen Mob heraus begangen werden, kaum noch justiziabel: Jeder Zeuge, der präzise Angaben macht, stünde dann als Lügenbold oder Aufschneider da.

Christopher R. hat gar nichts zugegeben, er saß nur da und schwieg und grinste

Dass die Verteidigung so argumentiert, kann ihr niemand verübeln. Was aber hat den außerordentlich erfahrenen und souveränen Richter Esders bewogen, sich so frühzeitig und ohne Not auf die Würdigung einer wichtigen Zeugenaussage festzulegen? Man kann darüber nur spekulieren. Stützte er sich auf die Kenntnis der Akten, denen er möglicherweise entnehmen konnte, dass S. im Laufe der Ermittlungen widersprüchlich ausgesagt hatte? Dann ist unerklärlich, warum der Zeuge im Prozess nicht mit diesen Widersprüchen konfrontiert wurde. Vertraute er darauf, dass es genügend andere Beweise für die Schuld der Angeklagten gebe? Groß ist die Auswahl nicht. Der Zeuge Raimund E. hat Christopher R. und André Z. belastet. Raimund E. , ein 24-jähriger Berliner, war nach seinen Worten so schockiert von dem Geschehen, dessen Zeuge er geworden war, dass er mehrere Fotos machte, "um die Täter zu überführen". Er schilderte die Tritte Tobias R.s und die Schläge, die André Z. dem wehrlosen Nivel mit dem Gewehraufsatz versetzt haben soll, fast völlig übereinstimmend mit der Aussage von Walter S. An Frank R. und Christopher R. hatte Raimund E. keine Erinnerung. Die Aussagen anderer Belastungszeugen mussten durch Verlesung ins Verfahren eingeführt werden, ein schwacher Ersatz, wie der Anwalt Benecken richtig anmerkte: "Wir konnten diese Zeugen nicht befragen und uns kein eigenes Bild von ihnen machen." Wer einen leibhaftig anwesenden Zeugen in Bausch und Bogen für unglaubwürdig erklärt, kann sein Urteil schwerlich auf die Aussagen von Zeugen stützen, die den Gerichtssaal gar nicht erst betreten haben.

Muss es also, wie die Verteidiger fordern, dabei bleiben, dass die Angeklagten nur für das verurteilt werden können, was sie selber zugegeben haben? Das war wenig genug: Christopher R. hat gar nichts zugegeben, er saß nur da und schwieg und grinste. Tobias R. sagte, er habe sich zu einem Tritt "in den Gesäßbereich oder die Beine" hinreißen lassen, der "hohe Adrenalin-Einfluss" sei schuld gewesen, dass er "nichts richtig wahrgenommen" habe. Frank R. räumte ein, er habe "zugetreten, gegen die Beine, und ich weiß nicht wo noch". André Z. ließ durch seine Verteidiger erklären, er habe möglicherweise mit einer Weinflasche einmal zugeschlagen, aber nur "auf den blauen Rock", und sei im Übrigen volltrunken gewesen. André Z.s Anwälte hielten es für angebracht, die Sterbe-Urkunde der kurz vor der Tat verschiedenen Großmutter verlesen zu lassen, um zu belegen, dass sich ihr Mandant im Zustand einer depressiven Verstimmung befunden habe.

Ein oder zwei Tritte in die Beine, ein Schlag mit einer Flasche auf den Oberkörper - dafür verhängen deutsche Gerichte im Normalfall Freiheitsstrafen von ein paar Monaten. Aber Daniel Nivel lag blutend auf der Straße, mit mehrfachen Schädelbrüchen, mit zerschlagenem Gesicht. "Ich vertrete einen Mann und eine Familie, deren Leben in einigen Minuten völlig zerstört wurde", sagte Antoine Vaast, der französische Anwalt Nivels. "Man hat ihm das Wichtigste im Leben genommen - die Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Er wird ein Pflegefall bleiben. Die Täter dagegen werden eines Tages die Autonomie wiedergewinnen, die sie diesem Vater geraubt haben." Frau Nivel, schloss Maître Vaast sein Plädoyer, vertraue der deutschen Justiz und hoffe auf ein gerechtes Urteil. Am 9. November wird es verkündet. Laurette Nivel wird da sein.

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