Seit 18 Jahren, einem Monat und 26 Tagen wird der ehemalige Landwirt Franz Xaver Einhell in der geschlossenen Psychiatrie verwahrt.
Achtzehn Jahre! Wenn jemand in Bayern einen Mord begeht und zu lebenslanger Haft verurteilt wird, kann er nach 15 Jahren auf Bewährung entlassen werden. Wenn er einen besonders abscheulichen Mord begeht, wie etwa der Mann, der in Krailling seine beiden kleinen Nichten erstochen hat, und das Gericht deshalb die besondere Schwere seiner Schuld feststellt, dann kommt er, wenn er sich gut führt, wahrscheinlich nach 2o Jahren wieder auf freien Fuß.
Franz Xaver Einhell hat niemanden ermordet. Er hat auch niemanden vergewaltigt, niedergeknüppelt oder sonst irgendwie an der Gesundheit geschädigt. Es besteht auch nach einhelliger Meinung aller Fachleute nicht die geringste Gefahr, dass er so etwas jemals tun wird. Franz Einhell hat in Gegenwart von vier Mädchen, die zwischen elf und vierzehn Jahre alt waren, seine Hose geöffnet und seinen Penis herausgeholt. Das Landgericht Passau verurteilte Franz Einhell zu einem Jahr und sechs Monaten Haft. Das war am 18. Juli 1995. Weil ein Oberarzt des Bezirkskrankenhauses Mainkofen bei ihm eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und damit verbunden eine Störung seines Sexualtriebs attestierte, billigte das Gericht dem Angeklagten eine verminderte Schuldfähigkeit zu und wies ihn in den sogenannten Maßregelvollzug - also die Psychiatrie - ein. Dort sitzt er bis heute, 18 Jahre, einen Monat und 26 Tage später.
Alle Jahre wieder überprüft eine Strafvollstreckungskammer am Landgericht Deggendorf, wie das Gesetz es befiehlt, ob Franz Einhell noch weiter verwahrt werden muss. Zuletzt tat sie das am 3. September 2012. Sie kam zu dem Ergebnis, dass "sich der weitere Vollzug der Maßregel zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht als unverhältnismäßig dar(stellt)", und dass Franz Einhell deshalb in der Psychiatrie verbleiben müsse. Nicht unverhältnismäßig? Da kann der Rechtsanwalt Hans-Jürgen Hellberg aus Vilshofen nur gequält lachen. "Das ist mehr als das Zehnfache der ausgesprochenen Freiheitsstrafe. Hier haben sowohl die Justiz, als auch die psychiatrischen Anstalten kollektiv versagt."
Vor vier Wochen ist Franz Einhell 65 Jahre alt geworden. Die Münchner Psychiaterin Hanna Ziegert, die Franz Einhell im Januar 2012 untersucht hat, beschreibt in ihrem Gutachten sein Erscheinungsbild: "Die Haare waren grau, schütter, und er war auffallend blass mit Augenringen. Er wirkte psychisch und physisch beeinträchtigt, sogar krank. Das Gebiss war schad- und lückenhaft. Er hatte saubere Fingernägel und zeigte gepflegte Hände. Mit sich trug er zwei umfangreiche Aktenordner, in denen in Klarsichthüllen seine persönlichen Aufzeichnungen sortiert waren. Es fiel auf, dass er seine Unterschrift sehr langsam und wie malend auf die Schweigepflichtsentbindung setzte."
Zwei umfangreiche Aktenordner - sie enthielten nur einen Bruchteil dessen, was Franz Einhell im Lauf der vergangenen 18 Jahre aufgeschrieben hat. Er schreibt in einer steilen, akkuraten lateinischen Ausgangsschrift, jede Grundschullehrerin hätte ihre helle Freude daran. Er macht nicht einen einzigen Rechtschreibfehler, und das, obwohl er viele, auch durchaus ungebräuchliche Fremdwörter benutzt. "Ich langjährig arretierter Mainkofener Forensik-Exulant", tituliert er sich selbst. Im
niederbayerischen Bezirkskrankenhaus Mainkofen bei Deggendorf, der "Forensik-Bastille", wie Franz Einhell es nennt, war er die längste Zeit seiner 18-jährigen Verwahrung untergebracht. Er hat unzählige Briefe an die Ärzte in der "Bastille" geschrieben, Briefe, in denen er seine Verzweiflung, seine tiefe Verbitterung, seine "seelische Frustration" über sein würdeloses Dasein in der Psychiatrie schildert. Wütende, anklagende Briefe gegen eine Gesellschaft und eine Justiz, die ihn, Franz Einhell, zu quasi lebenslanger Haft verurteilt, weil er sein Geschlechtsteil entblößt hat, während an jedem Zeitungskiosk "frivole Evastöchter" ihre nackten Busen und noch mehr vorzeigen dürften, ohne dass sie dafür für unzurechnungsfähig erklärt und in die Psychiatrie gesteckt würden. Er hat mit dem bischöflichen Zentralarchiv in Regensburg korrespondiert und eine Geschichte seiner Familie bis zurück ins 17. Jahrhundert geschrieben. Und er hat in mehreren 30, 40, 50 Seiten starken Konvoluten seine eigene Biografie erzählt. "Meine Lebensgeschichte auf dem Niederbayer. Erdenrund vom Tag der Geburt bis zur Ehescheidung", ist eines dieser Traktate überschrieben. "Wollte eigentlich nur meine umfangreiche, fatale Lebensgeschichte in einem bundesdeutschen gesellschaftspolitischen Nachrichtenblatt veröffentlicht sehen", heißt es darin. "Doch dazu werden wohl die hochnäsigen eitlen Boulevard-Redakteure nicht geneigt sein, um die tristen Memoiren eines verhärmten niederbayerischen Provinz-Bewohners ihren sensitiven Lesern zu kredenzen."
n Franz Einhells Entlassungszeugnis aus der Volksschule Reicheneibach steht nur ein einziges "befriedigend" - in "Leibeserziehung". In allen anderen Fächern schloss der Schüler Einhell mit "gut" oder "sehr gut" ab. Seine Eltern bewirtschafteten einen Einödhof in der Gemeinde Gangkofen, auf halbem Weg zwischen Vilsbiburg und Eggenfelden. "Eigentlich wollte ich Geschichte studieren", schreibt er in seinen autobiografischen Aufzeichnungen, "doch aus Gründen der späteren Betriebsübernahme blieb mir dieser Bildungsweg versagt", und in Klammern fügt er an: "Eine gotische Minuskel oder Kursivschrift zu entziffern bereitete mir in späteren Jahren weniger Schwierigkeiten als die Abdrehprobe an einer Sämaschine." Der Vater betrieb neben der Landwirtschaft einen Holzhandel und war viel unterwegs, "und so hatte ich gar keine andere Wahl, als gemeinsam mit meiner Mutter die Geschicke dieses kleinen Hofes zu leiten".
Für Frauen interessierte sich der junge Franz Xaver sehr, aber er wusste nicht, wie er sich ihnen nähern sollte. "War im dörflichen Bezirke eine Tanzveranstaltung oder ein geselliges Beisammensein anberaumt, so überlegte ich lange hin und her, ob ich nun hingehen sollte oder nicht", schreibt er. "Ging ich mal wirklich auf eine Vergnügungsstätte, so saß ich lasch vor meinem Getränk und sah mißgelaunt zu, wie sich andere Burschen und Mädchen in lustiger Unterhaltung amüsierten. Es war, als wäre ich regelrecht in Hemmungen hineingeboren." Das werde wohl, überlegt er, an der streng katholischen und sexualfeindlichen Erziehung gelegen haben, aber es lag möglicherweise auch daran, dass er ziemlich stark stotterte. "Man wurde auch fleißig gehänselt. Ein Nachbar mittleren Alters verstand es ausgezeichnet, mich auf ulkigste Weise zu necken." Mit spürbarer Genugtuung merkt Franz Einhell an dieser Stelle an: "Dieser widerliche Typ von Rabauke oder auch Wüstling ist aber dann auch frühzeitig verstorben."
Viele Jahre später, im Mai 2012, schilderte Franz Einhell in einer "nachträglichen chronologischen Beschreibung meiner Bauerstöchter-Damen-Bekanntschaften" seine spärlichen und fast immer frustrierenden Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Im Pflug , der Zeitschrift der Katholischen Landjugend, hatte er das Inserat einer Bauerstochter in Tuntenhausen entdeckt. Zum 19. Geburtstag hatte ihm die Mutter ein Auto geschenkt, und damit begab sich Franz Einhell zu seinem ersten Rendezvous. Die Sache gedieh bis zu einigen Küssen und zaghaftem Petting. Aber dann funkte "mein außerordentlich dominanter Vater" dazwischen, der den Hof der Auserwählten in Augenschein nahm und ihn für zu marode befand.
Dann wurde Franz Einhell zur Bundeswehr eingezogen. Im Kameradenkreis zirkulierten Magazine "mit völlig hüllenlosen skandinavischen Top-Miezen", an denen Franz Einhell sich "einfach nicht sattsehen" konnte. Aber im wirklichen Leben blieb seine Sehnsucht weiterhin ungestillt. Als er entlassen wurde, erkrankte seine Mutter an Brustkrebs, und er musste nun dringend eine Frau finden, um den Hof zu bewirtschaften. "Auf Anraten der fürsorglichen Erziehungsberechtigen" heiratete er schließlich im Sommer 1970 die Tochter eines Kleinbauern aus dem Landkreis Landshut. Wenige Wochen nach der Hochzeit erlag die Mutter ihrer Krankheit, und nur zwei Tage später starb der Vater nach einem Gehirnschlag.
Auch die Ehe brachte Franz Einhell nicht die Erfüllung, von der er ständig träumte. Es wurden zwei Kinder geboren, aber seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Sex blieb unbefriedigt. "Unsere Lebensgemeinschaft, die unter der einschüchternden Dogmatik des römischen Klerus krankte, verkümmerte zusehends", schreibt Franz Einhell. "Wenn sich meine Gattin umkleidete, drehte sie sich zur Seite, damit ihr eigener Mann sie nicht zu viel zu Gesicht bekam. Gingen wir an Feiertagen über Feld und grüne Raine spazieren, wozu ich sie auch noch drängen musste, so wurde natürlich eine zärtliche Umarmung nicht geduldet." Nach der Geburt der Kinder habe sich seine Ehefrau sexuell vollständig verweigert. "In meiner seelischen Bedrängnis verstrickte ich mich schließlich in Sittlichkeitsdelikte."
Am 19. Januar 1975 wurde Franz Einhell zum ersten Mal wegen zweier exhibitionistischer Handlungen verurteilt, zu einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung - ein drakonisches Urteil für einen Ersttäter. Dann passierte sieben Jahre lang nichts. Im Oktober 1983 wurde Einhell zum zweiten Mal verurteilt, diesmal zu einer Geldstrafe. Im Dezember 1986 folgte eine weitere Verurteilung zu drei Monaten Haft auf Bewährung, die widerrufen wurde, als Einhell fast genau zwei Jahre später erneut wegen exhibitionistischer Handlungen vor Gericht stand. Jetzt wurde er zum ersten Mal in die Psychiatrie eingewiesen. Vier Jahre lang blieb er dort, in dieser Zeit entschied er sich, den heimatlichen Bauernhof an die mittlerweile geschiedene Ehefrau zu überschreiben, in der Hoffnung, sie werde ihn weiter bewirtschaften. Aber zu Franz Einhells maßloser Verbitterung kam es anders. "Sie hat einen Großbauern kennengelernt", erzählt er, "und seitdem hat sie mich nicht mehr besucht. Dann hat sie mein väterliches Erbgut zu einem Schleuderpreis veräußert". Vom Erlös gab sie ihrem Ex-Mann 100 000 Mark ab; das reichte gerade, um sich ein Einzimmerappartement in Vilshofen zu kaufen.
1992 wurde Franz Einhell aus der Psychiatrie entlassen. Diesmal hielt er zwei Jahre durch. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Mai und dann noch mal im Juni 1994 öffnete er wieder seine Hose vor einer Gruppe junger Mädchen. Es gab unterschiedliche Aussagen darüber, ob der Penis erigiert war (Franz Einhell bestreitet es), ebenso darüber, ob er an seinem Geschlechtsteil manipuliert hat (auch das bestreitet er). Weil aber schon das Vorzeigen des Gliedes eine sexuelle Handlung ist, und weil sexuelle Handlungen vor Kindern strafrechtlich als Missbrauch gewertet werden, verhängte das Gericht eine Strafe von 18 Monaten. Bewährung kam angesichts der Vorstrafen nicht infrage.
Und was geschah mit Franz Einhell während seiner 18-jährigen Verwahrung? Man hat ihm Androcur verabreicht, eine Substanz, die die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron hemmt. Es hat Franz Einhells Verzweiflung nur ins Unermessliche verstärkt. Androcur macht impotent. Der Patient ist nicht mal mehr in der Lage zu onanieren. "Mir langjährig arretiertem Forensik-Proband soll auch noch jegliche körpereigene Sexualität entzogen werden, so dass ich womöglich in meinem oberen Kopfhaupt gar verrückt werden könnte", schreibt er in einem seiner vielen Protestbriefe. "Ist das nicht geradezu ein seelisch entsetzlich quälendes Horrormartyrium? Genügt das wohl immer noch nicht, dass dieser verbitterte und entsetzlich unglückliche ehemalige Rottaler Landmann seit rund zehn Jahren absolut keine einzige intime sexuelle Betätigung mit sogar volljährigen Evageschöpfen mehr praktizieren konnte?"
Einmal während dieser 18 Jahre ließ man Franz Einhell in einer betreuten Einrichtung Probewohnen. In dieser Zeit bekundete er einer 22-jährigen Bedienung in einer Gaststätte schriftlich und mündlich seine Zuneigung. Es gab keinen Straftatbestand und keine Anzeige, trotzdem wurde Franz Einhell sofort wieder in die Klinik zurückverfrachtet. Einmal, da war er vorübergehend im Klinikum in Haar, fragte er eine Pflegeschwester, ob er ihr den Arm um die Taille legen dürfe. Das wurde mit einer mehrwöchigen Ausgangssperre bestraft. "Warum macht man das?", fragt die Psychiaterin Hanna Ziegert. "Das ist doch genau das, was er lernen soll: Beziehungen zu erwachsenen Frauen aufzunehmen, ohne dabei gleich die Hose herunterzulassen. Man müsste ihm doch behilflich sein, seine Sexualität auf sozial adäquate Weise auszuüben."
Der jahrelange Aufenthalt in der Psychiatrie hat Franz Einhell nicht gesünder, sondern immer nur kränker gemacht. "Ein Mensch, der so lange verwahrt wird, wird infantilisiert", sagt Hanna Ziegert. "Er verliert seine Kreativität, seine Initiative, seine Autonomie. Er ist inzwischen mit Sicherheit erheblich behindert in seiner Überlebensfähigkeit." Ziegert hat mit Engelszungen auf die Deggendorfer Richter eingeredet, dass es jetzt allerhöchste Zeit sei, Franz Einhell mit kontinuierlichen Lockerungen auf eine Entlassung vorzubereiten, und zwar auch dann, wenn er rückfällig werden sollte. "Er hatte drei oder vier Phasen, wo er seinen Penis hergezeigt hat. Es gab keine Steigerung, es blieb immer bei diesem einfachen Exhibitionismus. Harmloser geht es gar nicht. Das muss eine Gesellschaft doch aushalten." Die Alternative dazu, sagt Hanna Ziegert, hieße: "lebenslange Unterbringung".
Wolfgang Kerscher, der Sprecher des Deggendorfer Landgerichts, sagt, das Gericht habe keine Möglichkeiten, auf die Modalitäten des Maßregelvollzugs einzuwirken. "Es kann nur entscheiden: Er kommt raus, oder er bleibt drin." Aber die Kammer habe ganz klar das Signal setzen wollen, dass jetzt der Zeitpunkt für Vollzugslockerungen gekommen sei.
Im Beschluss der Strafvollstreckungskammer liest sich das so: "Die Kammer weist ausdrücklich darauf hin, dass im Hinblick auf den zwischenzeitlich langen Unterbringungszeitraum und erkennbare Hospitalisierungstendenzen der Zeitpunkt einer Entlassung des Verurteilten aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten näher rückt."