Postkarten:Die schönste Form des Aneinanderdenkens

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Schon vor Corona verschickten die Deutschen ihre Urlaubsgrüße größtenteils virtuell. Was bedeutet das für die Zukunft der Ansichtskarte?

Von Mareen Linnartz

In der etwas ferneren Zeit, in der man noch ungetestet verreiste und das auch mal länger, lachten die Kinder bei der Rückkehr manchmal über die Eltern: Die Tür war gerade mal aufgeschlossen, die großen Fenster geöffnet nach Wochen der Abwesenheit, da steuerten die Großen verlässlich den Papier-und Prospekte-Stapel auf dem Küchentisch an, Post, die die Nachbarin aus dem Briefkasten im Erdgeschoss geholt und gesammelt hatte. Rechnungen, Kataloge, Telefonanbieter-Angebote "An alle Bewohner der XYstraße"; manchmal auch eher unerfreuliche Post vom Finanzamt, der Rentenkasse oder dem örtlichen Stromversorger, die Zählerstände müssten bitte abgelesen werden.

Das wollte man natürlich nicht alles lesen, darum ging es nicht. Nur mal durchschauen, ob nicht vielleicht irgendwo eine kleine Ecke türkisblauen Mittelmeers hervorblitzt. Leuchten irgendwo Hochhausfenster einer beeindruckenden Skyline auf einem Pappkarton? Hat also jemand eine Postkarte geschrieben, an einen noch sehr analog gedacht, "wir haben Delfine bei einer Bootsfahrt gesehen", "die Aussicht vom Empire State Building ist wirklich so atemberaubend, wie alle sagen" auf Papier gebracht? In einer krakeligen bis unleserlichen Schrift, mit einem hingequetschten Absender-Namen in Mini-Buchstaben ganz unten, weil der Platz ja immer knapp ist?

Doch, hin und wieder fischte man noch die eine oder andere Postkarte heraus, aber immer seltener, und meistens richtete sie sich auch nicht mehr an die Erwachsenen. Grundschulfreunde der Kinder, noch handylos, grüßten vom Gardasee, die Post der eigenen Eltern wiederum richtete sich vor allem an ihre Enkel, "wir freuen uns so, Euch wieder zu sehen!" Was nichts an dieser sehr speziellen Postkarten-Freude am Ende wirklich jeden Urlaubs änderte, vermutlich eine tiefe Prägung aus der Kindheit, als Urlaubserlebnisse noch nicht einen Klick oder eine WhatsApp-Nachricht entfernt gewesen sind und man erst mit enormer Zeitverzögerung erfuhr, wie es Anna, Martin und all den anderen Freunden in den vergangenen Sommerferienwochen ergangen war.

Schon vor Corona verschickten die Deutschen ihre Urlaubsgrüße vor allem virtuell

Das sind so Erinnerungen, vorpandemische Szenen, und, klar, man könnte jetzt kulturpessimistisch werden und vor sich hinseufzen: Die Ansichtskarte, diese irgendwie aus der Zeit gefallene und doch so schöne Form des Aneinanderdenkens: Auch ihr wird das Virus vermutlich noch den endgültigen Garaus machen! Wer es nach mehreren zermürbenden Lockdowns, manch unlogischen Wellenbrecher-Maßnahmen und Impfpriorisierungsdebatten endlich an einen Strand und damit in die Nähe von Erholung geschafft hat, der wird sich doch im Leben nicht zu einem Souvenirstand aufmachen, dort zwischen zwanzig mittelschönen Motiven ein ganz okay schönes aussuchen, ein paar Zeilen schreiben und dann noch in einer ihm fremden Landessprache Briefmarken auftreiben wollen. Der wird sich die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen, nicht mehr und nicht weniger, das Meer riechen, die Wellen hören, der greift dann vielleicht mal kurz zum Smartphone und schreibt eine Nachricht in den Chat: "Sind gut angekommen. Herrlich!" Oder?

Schon vor Corona verschickten die Deutschen ihre Urlaubsgrüße größtenteils virtuell. Während 1998 noch 400 Millionen Postkarten befördert wurden, hat sich diese Zahl bis heute etwa halbiert. Nostalgiker können sich immerhin bei postcrossing.de zufällig andere registrierte Nutzer zulosen lassen und auf diesem Weg einander noch Ansichtskarten schreiben und schicken lassen. Mehr als 700 000 "Postcrosser" in 213 Ländern soll es mittlerweile geben, sie mögen einander fremd sein, aber sie sind eben auch dem besonderen Zauber erlegen, den eine Postkarte, dieses in Standardgröße auf 10,5 mal 14,8 Zentimeter begrenzte Papierstück, ausstrahlt. Es ist ja eine echte Kunst, auf diesem übersichtlichen Rechteck persönliche Nachrichten aus der Ferne zu verfassen und dem anderen gleichzeitig das Gefühl zu vermitteln, in Gedanken bei ihm zu sein.

Der Schriftsteller Jurek Becker war darin nicht nur Meister, er war auch ein ungeheurer Vielschreiber. Allein 127 Postkarten schrieb Becker an seinen Sohn Johnny von 1992 bis zu seinem Tod 1997, 127 Mal Vaterliebe auf Miniformat mit lustigen Kosenamen-Ansprachen: "Du olle Kichererbse", "Geliebte Telefonklingel". Vor ein paar Jahren sind sie in einem Buch erschienen. Einmal schickte Becker Johnny Grüße aus Ecuador: "Du alte Quarktasche, vor dem Hotel, in dem ich gerade wohne, steht ein hübscher Springbrunnen. Er plätschert Tag und Nacht, man hört es durchs geschlossene Fenster, und ich wache jede Nacht auf, weil ich denke, da pinkelt jemand. Sag bloß, Du findest das komisch? Dein Papa Jurek."

So etwas würde man nie whatsappen, als SMS senden oder sonst wie digital weiterverbreiten. Gut, so etwas würden die meisten auch nicht schreiben. Aber man könnte es ja mal ausprobieren. Vielleicht in einer schöneren Handschrift als sonst und so, dass der eigene Name noch gut erkennbar darunter passt. Es wäre ein Vorhaben nach einer Zeit, in der wir laut Gesundheitsminister einander viel verzeihen müssen, und man vielleicht mehr darauf achten muss, aneinander zu denken. Ein paar Zeilen reichen schon. Weil es ja immer noch sehr viele gibt, die gerne zu ihrem Briefkasten gehen, ihre Post durchsuchen, in der Hoffnung auf ein bisschen Mittelmeer oder ein paar Hochhäuser auf einem Stück Pappe; Und die sich dann, wenn sie Ansichtskarten bekommen haben, darüber sehr freuen.

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