Pflegenotstand:Diagnose fürs deutsche Gesundheitssystem

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Die Intensivstationen sind voll. Nicht nur Pfleger und Ärzte sind am Limit. SZ-Leserinnen und -Leser bemängeln die Maßnahmen der Regierung, um Pflegepersonal neu zu besetzen, und würdigen Medizinische Fachangestellte.

Eine Ärztin kümmert sich auf einer Intensivstation um einen Corona-Patienten. (Foto: Oliver Dietze/dpa)

Zu "Der Ernst der Lage" vom 25. November, zu "Letzter Platz" vom 20./21. November, zu "Wenn die Betten nicht kalt werden" vom 16. November und zu "So hart wird der Winter" vom 13./14. November:

Mit Vollgas vor die Mauer

Der Artikel "Der Ernst der Lage" verharmlost den Ernst der Lage, wenn er Notfallmediziner zitiert, die vieles für maßlos übertrieben halten. Mit Vollgas und ohne wirksame Bremse fährt die Corona-Entwicklung gegen eine Betonmauer: 100 000 Tote überschritten, mehr als 76 000 tägliche Inzidenzen, Dutzende von Intensivpatienten, die von Sachsen, Thüringen oder Bayern in andere Bundesländer oder sogar ins Ausland geflogen oder gefahren werden müssen. Fast 90 Prozent der Intensivbetten sind von uneinsichtigen Ungeimpften belegt, dringende Herz- oder Krebsoperationen müssen verschoben werden, weil die Krankenhauskapazitäten explodieren.

Der RKI-Präsident Lothar Wieler oder der Berliner Virologe Christian Drosten hatten schon im Sommer vor einer sich beängstigend zuspitzenden Situation gewarnt. Politik und weite Teile der Gesellschaft haben diese Warnungen verharmlost oder ignoriert. Der Kanzlerkandidat Armin Laschet wollte vor der Bundestagswahl durch Einschränkungen keine Wähler verlieren. Im Oktober trat ein politisches Vakuum zwischen Noch-Regierung und Noch-nicht-Regierung ein. Vier entscheidende Wochen wurden versäumt, um den Anstieg der Corona-Zahlen einzubremsen. Die Inzidenzen explodierten ungebremst. Erst im November wurden mit gut vierwöchiger Verspätung erste Maßnahmen für Hotspots ergriffen. Aber das alles wird nicht reichen, zumal die epidemische Notlage mit restriktiveren, aber wirksameren Maßnahmen abgeschafft wurde. Ärzte und Virologen sagen voraus, dass Deutschland zwischen Weihnachten und Neujahr auf ein Drama zusteuert, das es so noch nicht gegeben hat.

Ohne einen unpopulären Lockdown - leider auch für uns Geimpfte - und ohne baldige allgemeine Impfpflicht ist die Vollgasfahrt gegen die Betonmauer nicht aufzuhalten. Leider wird die Politik auch diesmal wieder erst mit mehrwöchiger Verspätung reagieren. Bis dahin gibt es viele vermeidbare Tote und völlig erschöpfte Ärzte, Pflegekräfte und Rettungssanitäter. Das Coronavirus hat gesiegt, die deutsche Gesundheitspolitik hat versagt!

Dr. Thies Claussen, Krailling

Pflegebedürftige Pflege

Wer die Berichterstattung zu Corona verfolgt hat, kann sich nur wundern: Seit mindestens zwei Jahren ist sonnenklar, dass es in den Krankenhäusern an Pflegekräften mangelt. Schon vor Corona wurden die Krankenhäuser personaltechnisch systematisch ausgeblutet. Und anstatt mit Anreizen - mehr Gehalt, bessere Arbeitsbedingungen oder Weiterbildungen - die Zahl der Intensiv-Pflegekräfte massiv zu erhöhen, blieben die Verantwortlichen vollkommen untätig! Stattdessen wurde der fortwährenden Ausbeutung der Pflegekräfte einfach nur zugeschaut, mit der Konsequenz, dass jetzt Tausende Pflegekräfte weniger zur Verfügung stehen als zu Beginn der Pandemie! Sehenden Auges wurde der Karren gegen die Wand gefahren, von Spahn, Merkel und Co.

Warum liest man in der Süddeutschen und in anderen Zeitungen praktisch nichts über diesen Skandal? Stattdessen wird permanent auf die Ungeimpften eingedroschen. Auch hier erwies sich die Bundesregierung als unfähig, die nächstliegenden Schritte durchzuführen: Analyse der Motive der Ungeimpften, breit angelegte Informationskampagnen und positive Motivation zum Impfen statt des kontraproduktiven Druck- und Angstmachens. Selbst als Impfbefürworter finde ich es erschreckend, wie einseitig und geradezu devot gegenüber den Entscheidungsträgern berichtet wird.

Christian Bangert, Bielefeld

Krankes Gesundheitssystem

Die im Text auf der Seite Drei dargestellten imposanten Anstrengungen, die Löcher im deutschen Gesundheitssystem zu stopfen, lesen sich vordergründig als Erfolgsgeschichte. Aber dabei vor allem jüngeres Personal aus Übersee anzuwerben, das dann auch gleich von den Mühlen der Bürokratie ausgebremst wird, erscheint schon seltsam, wenn ohnehin hoch qualifizierte Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland durch Bamf, Arbeitsagentur und intransparente Sprachprüfungen hingehalten werden.

Am Beispiel eines uns bekannten Paars - sie examinierte Krankenschwester, er Arzt - beobachten wir unter anderem fehlendes Engagement, fehlende Flexibilität und Ideen seitens der Arbeitsvermittler und das bei generellem Arbeitskräftemangel nicht nur im Gesundheitssektor. Beide haben Berufserfahrungen gesammelt und bringen Kompetenzen mit, nach denen sich Kliniken und Praxen die Finger lecken müssten: mehrjährige Einsätze unter schwierigsten Bedingungen in afrikanischen Krisenregionen, Mehrsprachigkeit (Arabisch, Englisch, Türkisch und Deutsch). Aber das Jobcenter sieht sich nicht in der Lage, wenigstens ein Praktikum zu ermöglichen, um beispielsweise berufsspezifische Kommunikation zu trainieren.

Im Vergleich zu dem im Artikel beschriebenen Aufwand könnte man doch annehmen, dass bereits in Deutschland lebende Gesundheitsexperten zügig in Gesellschaft und Arbeitswelt integriert werden könnten, ja müssten. Der Optimismus der Seite Drei beißt sich leider allzu oft an den "Zuständigen" die Zähne aus.

Astrid Zahn und Heinz Fischer, Westerburg

Medizinische Fachangestellte

Danke für den Artikel, der einen Bereich des Gesundheitssystems thematisiert, der vor lauter Horrorbeiträgen über Intensivstationen, Pflegenotstand und Triage und Intensivtransporten ziemlich aus dem Blickwinkel gerät: die ambulante hausärztliche und fachärztliche Versorgung. Bei allem Schrecken über die in den Kliniken grassierende Welle an schweren Covid- Patienten: Die allermeisten Covid-Patienten werden weiterhin zu Hause versorgt und von ihren Hausärzten dabei begleitet. Die Hausärzte arbeiten sich auf, um den Krankenhäusern den Rücken frei zu halten. Dann sollen sie auch noch den "Impf-Turbo" zünden. Bitte den Hausärzten mal Beifall klatschen!

Eine dringende Bitte aber: Die hoch qualifizierten Fachkräfte in den Arztpraxen sind keine "Sprechstundenhilfen". Könnte man dieses Wort bitte aus den SZ-Artikeln streichen? Ich stolpere immer wieder darüber. Es ist schlichtweg falsch! Ähnlich, wie auch "Fräulein" nicht mehr durchgehen würde. Die Medizinische Fachangestellte (MFA) benötigt eine dreijährige Lehre und eine Prüfung, bevor sie diese Berufsbezeichnung führen darf. Viele MFAs haben Weiterbildungen in Qualitätsmanagement, Onkologie, Praxis-Management oder anderen Fachbereichen absolviert. Sie haben oft ein umfassendes Wissen und Erfahrung. Sie wissen zum Beispiel genau, welches Symptom bei der Terminvereinbarung einen dringlichen Termin benötigt und welches nicht.

Sie sind hochgeschätzte und wertvolle Mitarbeiterinnen, ohne die keine Praxis laufen würde. Das alles für ein ziemlich bescheidenes Gehalt und ohne die Zusatzleistungen des öffentlichen Dienstes, welche zum Beispiel viele Pflegerinnen in den Krankenhäusern genießen können. Kein Wunder, dass der nächste Fachkräftemangel die MFAs betreffen wird und sie bald ähnlich rar und begehrt sein werden wie heute Intensivschwestern. Ich kenne bereits Arztkollegen, die ihre Sprechstunden reduzieren mussten, weil sie nicht genug Personal finden konnten.

Dr. Michaela Beha, Amberg

Die tun mir weh

Ich stimme Herrn Bartens Meinungsartikel zu Corona-Impfungen voll zu. Ich bin dankbar für den "emotionalen" Ausbruch von Lothar Wieler vom RKI. Ich werde nächste Woche meine Auffrischungsimpfung erhalten. Das Wort "Booster" ist selbst Impfwilligen oft schwer vermittelbar. Mal wieder eine Kommunikationspanne erster Güte.

Nun mein Anliegen, gerichtet an all die - vorsichtig ausgedrückt - Covid-Aktivisten gegen eine Impfung. Ein Familienmitglied musste trotz der angespannten Situation letzten Mittwoch operiert werden: neue Niere. Ließ sich nicht mehr aufschieben. Und das in dieser Situation. Zur Info, die Empfängerin der Niere ist eine junge Frau, ein bisschen über 30. Beide, Spenderin und Empfängerin, brauchen grad jetzt Isolation. Und da sind die entsprechenden Betten voll mit Covid-Patienten, und das Personal ist mehr als am Limit. Aufgrund der irre angespannten Situation (alle Familienmitglieder natürlich geimpft) dürfen wir die beiden nicht besuchen, wäre vor Covid mit entsprechenden Maßnahmen möglich gewesen. Es wäre so wichtig.

Als Physikerin habe ich versucht, mit Daten aufzuklären, aber ich musste erkennen, dass manche Leute - auch in meiner entfernteren Familie - nicht mehr erreichbar sind. Ich musste sie aus meinem Telefonbuch löschen. Hab den Nonsens einfach nicht mehr ertragen. Da gebe ich Herrn Bartens recht, es geht offensichtlich nur durch Zwang. Wir haben durch Zwang Pocken und Kinderlähmung fast ausgerottet. Okay, dabei handelt es sich offensichtlich um Vakzine, die ein Leben lang halten. Das tun halt Grippe- und Corona- und sonstige Impfungen oft nicht. Sie müssen regelmäßig erneuert werden. Ab jetzt bin ich für Impfzwang. Ich hoffe, meine beiden Familienmitglieder werden diese schwierige Transplantation überleben und irgendwann mal wieder fast normal leben können. Ich hab es lange versucht zu verhindern, die Impfverweigerer zu hassen, aber ich bin jetzt an meiner persönlichen Grenze. Die tun mir weh, ich nicht ihnen.

Uschi Schneider, München

Patientenverfügung statt Triage

Ich selbst (73) habe für mich eine Patientenverfügung erstellt. Hierin habe ich ausgeschlossen, mich, im Falle einer schweren Corona-Erkrankung, künstlich beatmen zu lassen, und werde somit kein Intensivbett beanspruchen. Es stellt sich für mich die Frage, ob es nicht zahlreiche andere, vor allem ältere Menschen gibt, die ebenso denken beziehungsweise die nicht darüber informiert sind, dass es die Möglichkeit einer Ablehnung von Intensivbeatmung gibt, wenn sie dies vorher schriftlich niedergelegt haben. Gerade auch in Pflegeeinrichtungen wäre es besonders wichtig, den Willen der betreuten Menschen zu erfragen.

Margarete Ludwig-Glück, Neubiberg

© SZ vom 23.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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