Nachruf:Enzensberger, ein großer Denker

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Niemand kann Künstler, egal ob bildende, musizierende oder dichtende, so hart verreißen wie die jeweiligen Kollegen. Wahrscheinlich ist aber auch tatsächlich niemand besser im Ehren - gerade dann, wenn es um den vor einem halben Jahr verstorbenen Hans Magnus Enzensberger geht. (Foto: Regina Schmeken)

Schriftsteller, Kritiker, Philosoph und Mathematiker - SZ-Leser drücken ihre Verehrung für den Verstorbenen aus.

"Du musst unterwegs sein" und "Vom Rande her" vom 26./27. November:

Voller Heiterkeit

Die Fotografie, die in der SZ veröffentlicht wurde, ist die beste von Hans Magnus Enzensberger. Sie zeigt alles: Ein heiteres, fröhliches Gesicht eines Menschen, der in sich ruht, der in seiner Hochbegabung sich seiner selbst gewiss ist. Einer, der Sprache und Land prägt und davon weiß, der, anders als Habermas und Kluge, immer noch etwas in der Hinterhand hat. Ein Lächeln, ein Schmunzeln - was für ein Wort in deutscher Sprache.

In den Nachrufen fehlt der kurze Sommer der Anarchie; es fehlt, kurz vor der Allgemeinverweltlichung des PCs die scharfe Analyse des Fernsehens als absolutes Nullmedium (Dreijährige sitzen vor dem Bildschirm, selbst wenn nur Flimmern in Schwarz-Weiß zu sehen ist) und gewichtiger: die Freundschaft zu Ulrike Meinhof. Enzensberger meinte, er hatte Glück, er war der Clown und Kasperl der Revolution, die nicht stattfand. Ein Glück ohne Terror.

Dem Foto aber sind die Grade der Freiheit und der Heiterkeit anzusehen, die das Lebenswerk von Hans Magnus Enzensberger ausmachen. Selbst wenn man nur ein kleiner Geist ist, darf man sagen: Danke, Hans Magnus Enzensberger und auch danke, SZ.

Wolfgang Zacherl, Weilheim

Enzensberger, der Zahlenteufel

Lothar Müller spricht die schneidende Schärfe seiner ästhetischen und politischen Opposition ebenso an wie seine Kritik an den Aporien einer schlecht gealterten Avantgarde. Und, und ... Doch erlauben Sie mir bitte eine sehr ernst motivierte Anmerkung, eine Kritik. Als Naturwissenschaftler vermisse ich die Erwähnung aller Schriften, die Hans Magnus Enzensberger über "Die Mathematik im Jenseits der Kultur" geschrieben hat. Sein zweisprachiges Essay "Drawbridge up - Zugbrücke außer Betrieb" enthält sein Urteil über die "Mathematik als Grundlage aller Erkenntnis und die Trägerin aller höheren Kultur" (Konrad Knopp 1927), die er zwar für hochgegriffen, aber nicht für falsch hält.

Hans Magnus Enzensberger hat eine Fülle von Schriften zur Mathematik verfasst und vor vielen Gremien vorgetragen. Sein umfangreichstes Werk zur Mathematik ist "Der Zahlenteufel", ein "Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben", 262 Seiten. Doch Lothar Müller erwähnt das Wort Mathematik überhaupt nicht. Weshalb?

Im September 1967 traf ich Hans Magnus Enzensberger auf dem Weg in die USA auf der Bremen. Enzensberger war Ehrengast des Kapitäns, meine Familie war in der Economy Class untergebracht. Wir begegneten uns im Fitnessraum. Von Fitness war schnell nicht mehr die Rede, wir sprachen uns auch in den kommenden fünf oder sechs Tagen wissenschaftlich aus. Ich war als Universitätsprofessor auf dem Weg zu einem einjährigen Sabbatical in Los Angeles. Er hatte vor, ebenfalls ein Jahr in den USA zu bleiben.

Wir, beide derselbe Jahrgang (1929), verstanden uns gut. Ich sollte ihm als Naturwissenschaftler die Hintergründe der Mathematik näherbringen. Obwohl kein Spezialist, habe ich ihm über die Natur der Primzahlen und von einer Reihe ungelöster mathematischer Probleme berichtet. Ich vermute, vieles, was wir damals besprochen haben, ist in seinen "Zahlenteufel" eingegangen. Leider ist unsere persönliche Verbindung nach der Ankunft in New York abgerissen. Was mir blieb: Ich habe seine Werke lange Jahre aufmerksam verfolgen können.

Prof. Dr. Helmut Appel, Karlsruhe

Die Leere danach

Kurt Kister resümiert zu Enzensberger: "Die Nation ... braucht offenbar keine hauptberuflichen Gewissensträger mehr". Das Wort "offenbar" enthält aus meiner Sicht ein gewisses Bedauern. Denn den Bedarf an Gewissensträgern gäbe es sehr wohl, aber er wird häppchenweise verkonsumiert in den Talkrunden und auf den Feuilletonseiten. Ich teile dieses Bedauern und diese Einschätzung.

Wo sind heutzutage die großen Gewissensträger? Unser Bundespräsident ist ein Bürokrat der Moral, der bei jedem Anlass das Richtige und Erwartbare sagt - aber kein Wort mehr. Welcher Politiker genießt in einem weiteren Sinn moralische Integrität? Ex-Bundespräsident Joachim Gauck fällt mir ein. Angela Merkel sicher nicht. Außerhalb der Politik wird es eine ähnliche Leere geben, wenn die Generation von Habermas, Enzensberger und Kluge endgültig abgetreten sein wird. Und das in diesen Zeiten, in denen Pazifismus wieder als Schimpfwort gilt und Kritik an Waffenlieferungen obsolet ist. Ja, es fehlen moralische Instanzen und Gewissensträger, die dem kleingeistigen Zeitgeist widerstehen.

Klaus Fuhrmann, Freiburg

Wofür ich ihn liebe

Kurt Kister beschreibt genau, weshalb ich Hans Magnus Enzensberger liebe - besonders am Ende des Artikels: "Hätte man Hans Magnus Enzensberger gefragt, ob er sich "mit den großen Themen des Lebens" beschäftigt, hätte er gegrinst und irgendetwas Garstiges gesagt." Drum mag ich ihn, wenn ich auch nicht mit allem, was er sagte, übereinstimme. Ein großer deutscher Schriftsteller, Kritiker - für mich auch Philosoph.

Günther Gerhardt, Köfering

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