Katalonien:Einseitiges Geschichtsbild

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Der Politikwissenschaftler Peter A. Kraus schwärmte in der SZ von Kataloniens Zivilgesellschaft. Dabei hat er, meint ein Leser, den Schatten über dem Autonomiestreben übersehen.

"Rock 'n' Roll statt Trachtentanz" vom 30. September:

In seinem Artikel über den Ausgang der Regionalwahl in Katalonien , bei der die Befürworter einer Unabhängigkeit die absolute Mehrheit der Sitze im Regionalparlament, nicht aber die absolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen erhalten haben, schwärmt der Augsburger Politikwissenschaftler Peter A. Kraus von der fortschrittlichen katalanischen Zivilgesellschaft, die es vermöge, vermittels einer guten Organisation und aufgrund realer Benachteiligung durch Madrid einen politischen Willen nach Unabhängigkeit zum Ausdruck zu bringen, der keineswegs einem "völkischen Atavismus" oder einem "regressiven identitären Trachtentanz" gleichkomme, sondern "zeitgemäßer mediterraner Rock 'n' Roll" sei. Kraus leugnet nicht, dass an der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung nicht alles "Licht" sei, sondern gesteht ein, dass sich darunter auch viel "Schatten" befinde. Leider enthält Kraus dem Leser aber vor, worin dieser Schatten besteht.

Ein Zentrum des Catalanismo ist der FC Barcelona. Dessen Anhänger entrollen im Stadion bei jedem Spiel in der 17. Minute ein Banner, das die Jahreszahl 1714 zeigt. Damals wurden Vertreter der katalanischen Elite im Spanischen Erbfolgekrieg auf Geheiß der neuen bourbonischen Herrscher geköpft, weil sie sich auf die Seite des unterlegenen Hauses Habsburg gestellt hatten. Dieses Ereignis bildet auch den Ausgangspunkt des katalanischen Nationalfeiertags "Diada". Was, wenn nicht die unleugbar vehemente Erinnerung an ein Unrecht von vor dreihundert Jahren lässt sich unter dem Rubrum "völkischer Atavismus" subsummieren? Im Jahre 2015 an 1714 zu erinnern enthält meinem Verständnis von "Folklore" recht viele Elemente von "regressivem identitären Trachtentanz". Die politische Instrumentalisierung dieses Unrechts aus dem Jahr 1714 führt unweigerlich zu Geschichtsklitterung: Das Vernichten der katalanischen Oberschicht im Jahr 1714 ist für die Katalanisten der Beginn von deren angeblich jahrhundertelanger Unterdrückung.

Fortschritte wie die Beendigung der Diskriminierung der katalanischen Sprache in der transición nach Francos Tod oder ein Autonomiestatut mit weitgehenden Rechten passen freilich nicht zum einseitigen Opfernarrativ der katalanischen Nationalisten. Sebastian Barth, Ladenburg

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© SZ vom 08.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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