Identität:Breiterer Wertekonsens

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Unsere Gesellschaft drifte auseinander. Um sie zu stabilisieren, bedürfe es einer politischen Führung, hinter der sich Menschen verschiedenster Herkunft wiederfinden können.

Zu " Wider das Gift kollektiver Identität" vom 27./28. Februar:

Autorin Gesine Schwan sowie zuvor in einem Beitrag der FAZ auch Wolfgang Thierse bieten als Vorschlag zur Lösung von gesellschaftsimmanenten Problemen Kommunikation, Diskussion und somit das Argument und nicht die Identität an. Argumente liegen gut und schwer in der Gerechtigkeitswaage, wenn sie das Gewicht der Macht besitzen. Sonst stellen Argumente nur einen Papiertiger dar, womit sie sehr gefährlich sind, da sie schnell "entflammen" können, wie so oft in Diskussionen zu beobachten und Frau Schwan schildert.

Ihre Schilderung sieht wie folgt aus, als Beispiel: Ein Teil der Bürger greift die Minderheit (Schwule oder Flüchtlinge oder Kopftuchtragende oder Jüdinnen und Juden) an, ein Teil greift nicht mehr eine Minderheit, sondern die Mehrheit an, zum Beispiel Frauen. Und viele Teile der Bürgerinnen und Bürger greifen die absolute Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik an. Daher ist Schwans Versuch der Bündelung aller Minderheiten unter der Frage "Wie wollen wir leben?" ein nicht zu erreichendes Ideal. Bereits das sich einschleichende Gefühl, der Staat, die Exekutive, die Polizei und weitere Institution sehen zu, löscht schleichend das Vertrauen in den Staat.

Menschen, die in den vergangenen 20 Jahren einen Menschen bei einem Attentat verloren haben, wissen das besser als Frau Schwan. Wenn das Vertrauen sukzessiv abhandenkommt, schleicht sich das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit ein, der Staat verliert an Kraft, Gestaltungsfähigkeit sowie Macht. Eine Kostprobe davon haben wir am Tag mit der Inauguration des US-Präsidenten Biden erleben müssen mit dem Angriff auf das Kapitol.

Dass wir in der Bundesrepublik nicht eine absolute Spaltung der Bevölkerung erleben wie in den USA, die auf ein Zweiparteiensystem zurückzuführen ist, liegt daran, dass wir ein Vielparteiensystem haben und alle "Unzufriedenen" entsprechend verteilt sind. Das heißt aber nicht, dass bei uns die Unzufriedenheit nicht existiert, in großen Teilen und tief greifend - und nur entsprechend lange benötigt, um "durchzubrechen".

María del Carmen González Gamarra, Simmertal

Mit etwas Abstand betrachtet gibt es in der gesellschaftlichen Entwicklung nur zwei Wege: Kommunikation und Krieg. Gesellschaften sind über ihre Sprache zusammengewachsen und über die Gemeinsamkeiten, die sie mit deren Hilfe entwickelt haben. Das geht von der Begeisterung bis zum "Zusammenraufen", dem konstruktive Konflikt, dem Ringen um die Gemeinsamkeit. Der Krieg dagegen ist der destruktive Konflikt, vordergründig einfacher, in der Folge zerstörend.

Das Problem, das Frau Schwan vorzüglich beschreibt, ist, dass wir fast überall in den Kriegsmodus gerutscht sind. Die "Waffen" sind dabei die Vorwürfe der Benachteiligung sowie Fakten dazu, die immer auch subjektiv ausgewählt sind. Der Grund dafür: Wir haben einen gemeinsamen Werterahmen verloren und gleichzeitig damit auch ein gemeinsames Ziel, das lässt unsere Ordnung erodieren.

Es gibt Lösungsansätze, die aber erfordern Mut und Größe. Für den Werterahmen: Nachdem wir keinen gemeinsamen Gott mehr haben, der uns eint, brauchen wir Verfassungskunde statt Religionsunterricht - wobei jeder Artikel des Grundgesetzes durchgenommen und hinterfragt wird. Das anhaltende Ziel ist es dabei, eine Gesellschaft zu formen, in der es alle auf gute Weise miteinander aushalten. Zum Beenden des "Kriegszustandes": Beenden der Politik der Anklage zu Minderheiteninteressen und der Klischees, wie das des weißen Mannes als Sündenbock, insbesondere in der Sprache.

Rechtlich ist längst alles geklärt: Alle sind gleichwertig. Die politische Botschaft ist einfach: Diversität ist ein Lebenselixier für jede Gesellschaft, wir müssen Unterschiede anerkennend leben, statt sie zu bekämpfen. Jede Person ist Mitglied der Gesellschaft, mit ihrem Vermögen, ihren Zielen und ihren Schwächen. Wir wertschätzen alle gleich, wir kümmern uns um alle, geben allen alle Chancen, so gut es geht. Wir sind eine großzügige Gemeinschaft.

Es geht darum, eine Gesellschaft als Ganzes zu stabilisieren und jedes Mitglied anzuerkennen, nicht gegeneinander auszuspielen. Dabei politische Führung zu zeigen, hinter der sich viele Menschen aller Herkunft finden können. Minderheitenpolitik ist Sache der Klientelparteien. Damit wird aber keine Gesellschaft geeint, und keine Volkspartei gewinnt damit Wahlen.

Dominik Rüchardt, München

© SZ vom 11.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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