Homeschooling:Das soziale Miteinander ist nicht zu ersetzen

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Digital lernen, ist das wirklich die viel gepriesene Zukunft für Schülerinnen und Schüler? SZ-Leser haben da so ihre Zweifel. Denn es fehlt ja schon an der nötigen Grundausstattung.

Zu "Leichter lernen" vom 26. Mai, "Was zu lernen wäre" und "Schwer auszuhalten" vom 18. Mai, "Das dürfen wir auch erwarten" vom 5. Mai, "Sitzenbleiber" vom 27. April:

Die Rechte der Kinder

Wo bleibt das Recht auf eine qualifizierte Bildung der Kinder und eine rasche Normalisierung eines Kita- und Schulalltags? Wie kann es sein, dass dieses Thema bei der Frage nach Lockerungen nicht ganz oben steht, auf der ersten Seite? Wie sollen jetzt die Lerninhalte von circa zehn Wochen Schulausfall nachgeholt werden? Wenn schon das Risiko von Lockerungen eingegangen wird - warum nicht an den Schulen zuerst? Angesichts der zahlreichen Lockerungen entsteht bei mir der Eindruck, die Kinder seien in ihrer Isolation und Beschränkung inzwischen die Einzigen, die sich noch an die Kontaktsperren halten (müssen).

Barbara Schneider, Berlin

Den Schülern vertrauen

Die letzten Wochen des Homeschoolings in Bayern zeigen, dass sich die Unterrichtseffizienz trotz Bemühungen mit Arbeitsblättern und Wochenplänen in Grenzen hält. Offensichtlich ist es schwierig, die erweiterte Methode des herkömmlichen Unterrichts auf das Homeschooling zu übertragen. Meiner Meinung nach sollte die Schule mehr Vertrauen in die Persönlichkeit des einzelnen Schülers setzen und ihn zu eigenverantwortlichem Lernen motivieren am Beispiel von interessanten Aufgaben, die Freude bereiten. Nach einer Einführung in das Thema und Aufgabenstellung durch den Lehrer wäre es möglich, dass zwei bis vierköpfige Teams zu Hause weiterarbeiten. Natürlich müssen Arbeitsergebnisse als "Produkt" via Internet der ganzen Lerngruppe zur Verfügung stehen (mögliche Produkte: Skizzen, fiktionale Interviews, Rätsel, fiktionale Szenen etc). Wir alle wissen doch aus der Arbeitswelt, wenn wir uns gemeinsam mit Kollegen in ein Thema hineinbohren, lernen wir voneinander. Natürlich begleitet der Lehrer derartige Lernprozesse und steht als Berater jederzeit zur Verfügung.

Ute Taube, Oberhaching

Für eine Schulöffnung

Meine beiden Kinder kommen mit dem digitalen Lernen zu Hause ganz gut zurecht. Die meisten Lehrer, bis auf wenige Ausnahmen, schaffen es mittlerweile, den Schulstoff gut aufzubereiten, und es gibt auch Vorteile des Homeschoolings, beispielsweise der Wegfall des Notendrucks und die relativ freie Zeiteinteilung. Dennoch bin ich für eine einschränkungsfreie Öffnung aller Schulen. Denn Schule ist nicht nur ein Ort, an dem man Wissen in Kinderköpfe stopft, sondern sie sollte im Idealfall ein Ort sein, wo man auch und vor allem soziales Miteinander erlernt, zum Beispiel die in unserer Krise hochzuhaltenden Tugenden der gegenseitigen Rücksichtnahme und Empathie. Auch die Inklusion von Menschen, die auf die eine oder andere Art benachteiligt sind, sollte dort erlernt werden können. Denn nur so können die Kinder später als Erwachsene Teil unserer (weltweiten) Solidargemeinschaft werden. Vielleicht kann man aus der Krise lernen, dass kleinere Klassen, mehr Lehrer und weniger Notendruck zu einem besseren Schulklima führen. Es gibt auch schon Studien und Plädoyers von Wissenschaftlern, die fordern, dass wir die Gefahr des Coronavirus in die auch sonst für unser menschliches Leben bestehenden Gefahren einordnen.

Claudia Walchshöfer, Weilheim

Desolat ausgestattet

Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken sieht also die Lehrkräfte und die Schulen in der Pflicht, sich digital für ihre Schüler und Schülerinnen zu wappnen, weil es darauf ankomme, "dass alle Schüler zu Hause Lernfortschritte machen."

Ja, natürlich, dieses Engagement darf sie und dürfen auch alle Schulkinder und Eltern von Lehrkräften und Schulen erwarten, wenn der künftige neue "Corona"-Schulbetrieb, also der Wechsel von Schichtunterricht in kleinen Gruppen in der Schule mit Fernunterricht von zu Hause Erfolg haben soll.

Aber glaubt Frau Esken wirklich, das reiche aus? Wo war sie in den letzten Tagen, Wochen, Monaten, ja Jahren... hat sie keine Fernsehberichte gesehen, Zeitungsartikel gelesen, ist sie nirgendwo einmal gestolpert über desolat ausgestattete Schulen? Wie sollen selbst digital versierte Lehrer jetzt ihren Schülern tolle Lern-Apps und Tools nahebringen, welche die Kinder dann während des Fernunterrichts gewinnbringend und selbständig nutzen sollen - also ohne Hilfe der gestressten Eltern - wenn viele Schulen heute weder Wlan noch genügend Laptops zur Verfügung haben? Und damit sind lange noch nicht alle Missstände aufgezeigt. Ist die App sicher? Genügt sie den Mindestanforderungen des Datenschutzes? Mit solchen Fragen lassen Schulbehörden und Ministerien die Lehrkräfte allein.

Und wie sollen Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien, die keinen einzigen Computer zu Hause haben, wie sollen diese Kinder dann am teilweise digitalen Fernunterricht teilhaben? Ja, ein Handy hat fast jedes Kind, für Lernanwendungen ist es aber meist untauglich. Tatsächlich verzichtet manche Lehrkraft auf den Einsatz digitaler Anwendungen, weil sie die Gräben der Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten nicht noch vertiefen will.

Susanne Zydra, Bad Nauheim

Gigantische Selbsttäuschung

Das Allerletzte, was die Schulschließung auf die gesellschaftliche und bildungspolitische Agenda setzen sollte, sind Ressourcenthemen. Das Erste und Wichtigste wäre die Frage nach der menschlichen Situation, in der sich Kinder und Jugendliche befinden, denen die menschliche Zuwendung und die Alltagsroutine fehlt, die weder ein Tablet oder Whiteboard noch eine Videokonferenz ersetzen kann, die Nähe und Interaktion vorgaukelt. Es gibt keine spezifische Pädagogik der Pandemie, und deshalb ist Fernunterricht so paradox wie eine Zahnsteinentfernung durch Hypnose. Unterricht ist stets ein unersetzbares, einzigartiges pädagogisches Geschehen, das physische Präsenz notwendig voraussetzt.

Henrike Rossbach wirft einen ökonomistischen Blick auf den derzeit verwaisten Lebensraum Schule, der sich der Illusion hingibt, allein mithilfe von Technik Menschen bilden zu können. Da bleibt alles auf der Strecke, was pädagogische Erfolge zwingend voraussetzt: Begeisterung durch die reale Fachkompetenz des Lehrers, Erfahrung von Gemeinschaft einer Lerngruppe, lebendige Gespräche mit allen Facetten, die menschliche Kommunikation umfasst. Kinder sehnen sich nach Zuwendung durch ein persönliches Wort, nach trostreichen Antworten auf existenzielle Fragen, nach Geborgenheit und Nähe, die in dieser Situation allein die Familie bieten kann.

Der Digitalisierungsfetisch ist in Wahrheit eine gigantische Selbsttäuschung, was die Wirksamkeit technologischen Inputs für erhoffte Lerneffekte betrifft. Stattdessen wäre es viel sinnvoller, darüber nachzudenken, wie sich die menschlichen Defizite mittelfristig pädagogisch beheben lassen, welche die derzeitigen Traumaerlebnisse auslösen.

Thomas Gottfried, Freising

© SZ vom 13.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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