Hartz IV:Eine Frage der Zumutbarkeit

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Viele Leser äußern sich zufrieden über die Entscheidung des Verfassungsgerichts, dass Bezüge von Langzeitarbeitslosen nur begrenzt kürzbar sind. Einige empfinden die Sanktionsmechanismen als Schikane. Ein Schreiber widerspricht.

Wer Arbeitslosengeld II bezieht, muss ohnehin knapp kalkulieren. Die Bezüge dürfen daher um höchstens 30 Prozent gekürzt werden, härtere Sanktionen sind nicht zumutbar, entschied kürzlich das Bundesverfassungsgericht. (Foto: imago/photothek)

Zu " Die Menschenwürde ist unkürzbar" und " Faire Hilfe" vom 6. November:

Für manche lebensgefährdend

Bei Vorschlägen zu einer rechtskonformen Weiterentwicklung der Grundsicherung muss berücksichtigt werden, dass es nicht nur (erwerbs-)arbeitsfähige, sondern auch (vorübergehende oder dauerhaft) erwerbsgeminderte und erwerbsunfähige (zum Beispiel kranke/behinderte/ältere) anspruchsberechtigte Menschen gibt. Diesen Bürgern und Bürgerinnen (gleich welchen Alters) über Sanktionen (gleich welcher Art/Höhe) das Existenzminimum zu kürzen, ist dann in diesen Fällen keine Lebensgrundsicherung mehr, sondern eine Lebensgefährdung. Hier wurde/wird die Menschenwürde noch immer - oft und brutal - mit (Amts-)Füßen getreten.

Annette Gümbel-Rohrbach, München

Kürzungen sind richtig

Dem Text "Die Menschenwürde ist unkürzbar" muss ich widersprechen. Denn nicht die Menschenwürde, sondern das Hartz-IV-Geld wird gekürzt bis zu 30 Prozent, und das ist auch richtig so, denn anders kann man gegen Faulpelze und Drückeberger nicht vorgehen!

Wer als Hartz-IV-Empfänger Vorladungstermine ignoriert und zumutbare Arbeitsstellen verweigert und damit seinen Pflichten nicht nachkommt, hat keinen Anspruch darauf, auf Steuerzahlerkosten weiterhin durchgefüttert zu werden. Den Begriff der Menschenwürde darf man nicht überstrapazieren!

Karl Hamp, München

System mit vielen Fehlern

Aus eigener Erfahrung mit dem Hartz-IV-System kann ich sagen, dass von den wirklichen Problemen in diesem Bereich abgelenkt wird. Ich habe den Eindruck, dass an den Fähigkeiten und der noch vorhandenen Motivation der Langzeitarbeitslosen kein echtes Interesse auf dem ersten Arbeitsmarkt besteht. Nicht einmal die Qualifizierten haben die Chance auf einen wenigstens befristeten Arbeitsplatz als Lückenbüßer (zum Beispiel wegen Mutterschutz), solange sie nicht jung und noch formbar sind.

Warum werden nicht zum Beispiel an den Berufsinformationszentren der Arbeitsagenturen (BIZ) betreute Computerarbeitsplätze mit anspruchsvoller proprietärer Software eingerichtet, auf denen der qualifizierte Arbeitssuchende diese für den privaten Gebrauch viel zu teuren Werkzeuge einmal unter fachkundiger Anleitung von Informatikern ausprobieren kann? Damit würde man leistungswillige Arbeitssuchende ernst nehmen, sie mit ihrer Einsatzbereitschaft abholen und zeigen, dass es Respekt für die Wahrnehmung von Eigenverantwortung gibt.

Von den Interessenvertretern der Arbeitgeber werden solche Vorschläge oft ohne erkennbare Gegenargumente abgelehnt. Aus eigener Erfahrung zweifle ich daran, dass seitens der Arbeitgeber die Bereitschaft besteht, ältere qualifizierte Arbeitssuchende auf den angeblich so gefragten Einsatzgebieten, zum Beispiel Softwaretests für Automotive oder Medizintechnik, in überschaubarer Zeit einzuarbeiten; und das, obwohl der Staat bei erfolgreicher Vermittlung in Arbeit schon jetzt erhebliche Mittel bereitstellt. Die einschlägige Hilfeindustrie hat kein Interesse an kompetenten Arbeitssuchenden mit eigenen Zielen. Gebrochene Persönlichkeiten lassen sich leichter umherschubsen. Mit diesen Menschen lässt sich länger Geld in immer weiteren Maßnahmen und gescheiterten "Probearbeiten" verdienen.

Viele Menschen im Hartz-IV-System haben einfach Angst. Angst, deren Wirkung über längere Zeit behandlungsbedürftig ist. Ausreichende Therapieplätze gibt es nicht. Manche Ärzte verschreiben dafür gerne Psychopharmaka.

Auch ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen mit nachgewiesener erheblich verkürzter Lebenserwartung, darüber wird aber nicht geschrieben. Das Hartz-System ist zu Recht mit dem Makel dieses Namens verbunden. Die SPD muss bis zum Ende ihrer Tage mit diesem Brandmal leben. Die Wirtschaft hat qualifizierte Langzeit- und Drehtür-Arbeitslose lange genug vernachlässigt. Ich erwarte wirksame Aktivitäten von der Arbeitgeberseite, die bei den Betroffenen ankommen.

Arbeitgebernahe und wirtschaftsliberale Institute und Journalisten sprechen und schreiben gerne über Langzeitarbeitslose, aber sie sprechen fast nie mit ihnen. Hinter dem Hartz-System steckt meines Erachtens die Idee von Jeremy Benthams Panopticon, nämlich die Internalisierung des von oben gewünschten Verhaltens durch die Unterworfenen des Hartz-Systems.

Wäre ein System, das auf Anreizen beruht, also das den Fleiß und die Kooperation der Betroffenen belohnt, nicht besser? Persönliche Teilnahme statt Überwachung, wirksame Hilfe statt Kontrolle, echte Wertschätzung statt Inkompetenzvermutung.

Udo Schäfer, Stuttgart

Ein Recht, kein Almosen

"Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist letztlich eine Bankrotterklärung", schreibt Autorin Henrike Roßbach. Dann singt sie das Hohelied der (Erwerbs-)Arbeit und will keinen Wohltäterstaat. Genau den wollen wir, die wir ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) fordern, auch nicht. Unser BGE ist ein Recht, kein Almosen. Und weshalb man mit BGE plötzlich die Segnungen der Erwerbsarbeit nicht mehr genießen sollte, erschließt sich mir nicht. Wer 1000 Euro im Monat vom Staat überwiesen bekommt, stellt doch nicht plötzlich die Arbeit ein, die ihm so viel Lebensglück schenkt. Das halte ich für Quatsch. Sonst würden ja auch jetzt schon alle für den Rest des Monats die Hände in den Schoß legen, sobald ihr Gehaltskonto auf 1000 Euro steht.

Ursula Walther, Herzogenaurach

Alle Sanktionen überprüfen

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht zwar in die richtige Richtung, dennoch sollte man sich gerade in der SPD darüber einig sein, dass Hartz IV abgeschafft gehört! Und so kann ich die Initiative von Juso-Chef Kevin Kühnert nur begrüßen, wenn die Sanktionen bei Hartz IV insgesamt überprüft werden. Zudem gibt es keinerlei Studien darüber, inwieweit Sanktionen überhaupt zu Erfolgen, so wie sie CDU und FDP ja immer propagieren, geführt haben? Nun heißt es deshalb endlich auch, sich über ein bedingungsloses Grundeinkommen Gedanken zu machen, das als einziges Mittel geeignet ist, das Zusammenleben in der Gesellschaft ohne soziale Spannungen zukunftsfähig zu machen!

Thomas Henschke, Berlin

© SZ vom 12.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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